Olaf Scholz kommt um 12.56 Uhr in den Plenarsaal des Reichstags. Seine Aktentasche hat er nicht dabei, trägt nur eine Mappe mit seiner Rede in der Hand. Er schlendert hinüber zur SPD-Fraktion, schüttelt Fraktionschef Rolf Mützenich die Hand. Zu Oppositionschef Friedrich Merz (CDU) und FDP-Chef Christian Lindner, seinem früheren Finanzminister, geht er anders als bei der letzten großen Debatte neulich nicht. Die Stimmung ist angespannt.
Es ist ein historischer Tag, Scholz will im Bundestag die Vertrauensfrage stellen – zum sechsten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ist das der Fall. Sein Ziel: Die Abstimmung verlieren und so vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar herbeiführen.
Als Scholz anfängt, reitet der Kanzler rasch einen Frontalangriff auf Union und FDP nach dem anderen, es geht hart zur Sache. Ein Beispiel: „Politik ist kein Spiel“, ruft Scholz Christian Lindner zu, den er als Finanzminister entlassen hatte und weshalb die Ampel-Koalition platzte. „In eine Regierung einzutreten, dafür braucht es die nötige sittliche Reife.“ Als Scholz das sagt, blickt der FDP-Chef entgeistert auf den Sozialdemokraten – politische Partnerschaft ist einem Rosenkrieg gewichen.
„Wir schulden den Bürgern Anstand und Ernsthaftigkeit“, sagt Scholz und fragt dann: „Trauen wir uns zu, als starkes Land kraftvoll in unsere Zukunft zu investieren?“ Die meiste Zeit seiner Rede verwendet der SPD-Mann dazu klarzumachen, wofür er als Kanzlerkandidat seiner Partei bei der Wahl antritt. Er kündigt „massive“ Investitionen in Sicherheit und Verteidigung an. „Heute führt eine hochgerüstete Atommacht Krieg in Europa – nur zwei Flugstunden von hier“, sagt er mit Blick auf Russland. „Wir tun nichts, was unsere eigene Sicherheit aufs Spiel setzt“, verspricht Scholz und erneuert sein Nein zu deutschen Taurus-Marschflugkörpern für die Ukraine. Scholz wirbt aber auch für stabile Renten, Entlastungen für die Menschen und mehr finanzielle Belastungen für Superreiche und Vermögende. Immer wieder bekommt er lauten Applaus, allerdings nur von den SPD-Abgeordneten.
Merz gegen Scholz
Rückblende: Bevor Scholz in den Plenarsaal kommt, nimmt er ein paar Stockwerke weiter oben an einer Sonderfraktionssitzung teil. Mit dabei: Seine Ehefrau Britta Ernst. Fraktionschef Rolf Mützenich macht deutlich, dass die sozialdemokratischen Abgeordneten Scholz das Vertrauen aussprechen würden.
Bei den Grünen, die noch Teil der Bundesregierung sind, geht man anders vor: Die Grünen-Fraktion will sich enthalten, um nicht zu riskieren, dass Scholz mit einigen abweichenden Stimmen von der AfD doch noch mehrheitlich das Vertrauen erhalten könnte. Die Mehrheit der AfD will aber gegen Scholz stimmen, die Unionsfraktion will dies komplett tun.
Zehn Minuten vor Beginn der Debatte verlässt ihr Vorsitzender Friedrich Merz sein Büro im Reichstag, um sich auf den Weg in den Plenarsaal zu machen. Der Kanzlerkandidat hat kein fertiges Redemanuskript dabei, Merz hat sich Stichpunkte gemacht, er wird direkt nach Scholz und weitgehend frei reden.
Als Scholz spricht, merkt man, wie es in Merz zunehmend brodelt. Kaum am Rednerpult, bricht es aus dem Oppositionsführer schon heraus. Erst nimmt er die FDP und Lindner gegen die Attacken des Kanzlers in Schutz. Scholz habe über „Respekt“ gesprochen, habe aber völlig respektlos gegen die Liberalen gewettert. „Herr Bundeskanzler, das ist eine blanke Unverschämtheit“, ruft Merz. Der ständige Streit der Ampel sei entstanden, „weil Sie nicht willens und in der Lage waren, eine Koalition zusammenzuhalten“, ledert er weiter gegen den Kanzler. „Sie hinterlassen das Land in einer der größten Wirtschaftskrisen der Nachkriegsgeschichte.“ Auch sei in dessen Rede „das Wort Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft“ nicht einmal vorgekommen. Die Union jubelt.
„Chance nicht genutzt“
Dann macht sich der CDU-Mann über die von Scholz geforderte Senkung der Mehrwertsteuer für Lebensmittel von sieben auf fünf Prozent lustig. Eine solche Senkung würde ebenso „für Froschschenkel, Wachteleier und frischen Trüffel greifen“, stichelt er. „Das ist nicht nur Milch und Butter.“ Gelächter im Parlament. Merz setzt weiter voll auf Gegenangriff. Er ist auf 180. Auch attackiert er den Grünen-Kanzlerkandidaten Robert Habeck scharf. „Sie sind das Gesicht der Wirtschaftskrise in Deutschland.“ Wieder johlt die Union.
Am Ende wendet sich der Oppositionsführer noch einmal direkt an Olaf Scholz. „Herr Bundeskanzler, Sie haben ihre Chance gehabt. Sie haben ihre Chance nicht genutzt“, resümiert er. „Sie, Herr Scholz, haben Vertrauen nicht verdient.“ Scholz verzieht keine Miene.
Robert Habeck ist nach Merz an der Reihe. Der noch amtierende Vizekanzler räumt ein: Klar, alle drei seien „genervt voneinander“ gewesen, sagt er mit Blick auf die ehemaligen Ampel-Koalitionspartner SPD, Grünen und FDP. Die Ampel habe „zu Recht einen schlechten Ruf“. Aber Habeck warnt vor politischer Selbstbeschäftigung, denn die Welt stehe nicht still. Habeck wirbt dafür, über den Tellerrand hinauszuschauen. In Richtung der „lieben FDP“ mahnt er an: „Man kann in einer Regierung nicht gegen eine Regierung sein.“ Man könne eine Regierung verlassen, aber man dürfe sie nicht von innen zerstören wollen. Starker Tobak.
Schluss mit Ampel
Doch den Großteil seiner Rede widmet Habeck der Union und den Attacken von Merz. Habeck kontert, dass Deutschland schon seit 2018 kein echtes Wachstum mehr verzeichnet und in einer „tiefen Strukturkrise“ stecke. Er wirft der unionsgeführten Vorgängerregierung eine „historische Fehleinschätzung“ der geopolitischen Lage vor und nennt dabei die Abhängigkeit von russischem Gas und den Verkauf der deutschen Gasinfrastruktur an Russland. Wer das Land führen wolle, müsse die Oppositionsrhetorik fallen lassen, so Habeck.
Nach drei Stunden Redeschlacht beginnt die namentliche Abstimmung. Um 16.32 Uhr dann die Gewissheit. Von 717 abgegebenen Stimmen gab es nur 207 Ja-Stimmen. Olaf Scholz verliert also wie gewünscht die Vertrauensfrage. Und Bundestagspräsidentin Bärbel Bas resümiert: „Wir sind damit am Schluss unserer Tagesordnung, auch der Ampel.“
Fünf Vertrauensfragen vor Kanzler Olaf Scholz
Willy Brandt (SPD), 1972: Absichtliche Niederlage für Neuwahlen.
Helmut Schmidt (SPD), 1982: Absicht ist, die Mehrheit zu sichern.
Helmut Kohl (CDU), 1982: Absichtliche Niederlage für Neuwahlen.
Gerhard Schröder (SPD), 2001: Absicht ist Erfolg in Verbindung mit Abstimmung zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr.
Schröder 2005: Absichtliche Niederlage für Neuwahlen.
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