Die Schlange der Menschen ist gut einhundert Meter lang. Sie reicht fast bis zu jenem Fluss, der Ende Oktober nach ungewöhnlich starken Niederschlägen über die Ufer trat und den Ort meterhoch überflutete. Die Wartenden stehen vor einem der wenigen Läden an, der nach der Hochwasser- und Schlammkatastrophe im spanischen Paiporta inzwischen wieder geöffnet hat – dem Lottogeschäft mit dem vielversprechenden Namen „La Millonaria“ (auf Deutsch: Die Millionärin).
Dieses Jahr werden insgesamt mehr als 2,7 Milliarden Euro an Prämien ausgeschüttet. Allein der fette Hauptgewinn, „El Gordo“ (der Dicke), ist 772 Millionen Euro schwer. Diese dicke Prämie wird aber vermutlich nicht an eine einzelne Person gehen, sondern dürfte wieder mehrere Tausend Menschen jubeln lassen. Denn jedes Nummerlos, das im spanischen Direktverkauf 20 Euro kostet, wird in diesem Jahr genau 1.930-mal ausgegeben. Zudem ist es Tradition, dass Familienangehörige, Freunde und Kollegen einen dieser Loszettel gemeinsam kaufen – nach dem Motto: Geteiltes Glück bringt doppelte Freude.
Nicht nur viele der mehr als 29.000 Einwohner Paiportas hoffen, dass der schlimmsten Flutkatastrophe, an die sich die Bürger erinnern können, eine positive Fügung des Schicksals folgt. Aus ganz Spanien reisen die Menschen nach Paiporta, dem Epizentrum jenes Tsunamis, der am 29. Oktober den Ort und Teile der Mittelmeerprovinz Valencia verwüstete. Mehr als 220 Menschen starben in dieser Tragödie, allein 45 Todesopfer gab es in der Kleinstadt Paiporta.
„Ein bisschen Illusion mit nach Hause nehmen“
„Wenn ein Unglück geschieht, muss man anschließend Lotterielose kaufen“, sagt ein Mann namens Juan, der in der Warteschlange steht. Er ist aus dem südspanischen Andalusien 430 Kilometer mit dem Auto gefahren, um in Paiporta für die Familie und für Freunde insgesamt 40 Lose zu kaufen. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt er. „Der Tragödie muss jetzt etwas Positives folgen.“ Alles nur Aberglaube?
„Jeder will hier ein bisschen Illusion mit nach Hause nehmen“, berichtet Paiportas Lottoverkäuferin Cristina Piles. Sie würde gerne dazu beitragen, dass dem verheerenden Starkregen vom 29. Oktober nun ein millionenschwerer Geldregen folgt. So wie ihr Vater, von dem sie das Lottogeschäft übernahm. Cristinas Vater hatte im Jahr 1989 etliche Nummernlose des dicken Hauptpreises der Weihnachtslotterie verkauft und damit vielen Einwohnern zu Wohlstand verholfen.
Von diesem Wohlstand ist derzeit allerdings nicht mehr viel zu sehen: Auch Wochen nach der Katastrophe bietet der Ort ein trostloses Bild. Die meisten Läden sind geschlossen. Soldaten, Bewohner und Freiwillige kämpfen weiterhin gegen den Schlamm, der sich in Geschäften, Wohnungen, Kellern, Garagen, auf den Straßen und in der Kanalisation festgesetzt hat. An manchen Straßenrändern sieht man noch von der Flut zerstörte Autowracks.
Die Schäden in Paiporta und in den umliegenden Dörfern werden auf über 20 Milliarden Euro geschätzt. Wer möchte da den Menschen im Unglücksgebiet nicht ein wenig Lotterieglück gönnen? Wie oft nach solchen Tragödien hat das Datum, an dem die Flut kam, nun eine besondere Anziehungskraft auf die Glücksritter – das Unheil ereignete sich am 29. Oktober. Entsprechend sind alle Losnummern, in denen die Zahlen 2 und 9 auftauchen, seit Wochen ausverkauft.
Glück bei der Goldhexe?
Nicht nur vor Paiportas Lottogeschäft bilden sich in diesen Tagen lange Schlangen. Andere berühmte Verkaufsstellen in Spanien verzeichnen ebenfalls großen Andrang. Etwa der über 100 Jahre alte Lotteriekiosk „Doña Manolita“ im Zentrum Madrids. Und die bekannte Verkaufsstelle „Goldhexe”, die in einem katalanischen Pyrenäendorf namens Sort (auf Deutsch: Glück) liegt.
Spaniens große Weihnachtslotterie zieht seit Jahren immer mehr Zocker an, und zwar im In- und Ausland. Die staatliche Lottogesellschaft erhöhte deshalb dieses Jahr die Zahl der ausgegebenen Losscheine: Insgesamt werden dieses Mal 193 Millionen Loszettel vertrieben.
Größter Gewinner ist übrigens jetzt schon der spanische Staat. Auch nach Ausschüttung der großen und kleinen Prämien mit einer Gesamtsumme von annähernd 2,7 Milliarden Euro fließen mehr als eine Milliarde Euro in die Haushaltskasse. Zudem greift das Finanzamt noch einmal bei allen Gewinnen über 40.000 Euro zu – mit einer Glücksspielsteuer von 20 Prozent.
Lotto ist eine Steuer für Arme und Dumme.