Freihandelsabkommen sind in der EU eine zunehmend heikle Angelegenheit, heiße Eisen, an denen sich schnell jemand die Finger verbrennen kann. Vor einigen Jahren wurde viel über CETA diskutiert, das Freihandelsabkommen mit Kanada, das schlussendlich zustande kam. Noch mehr wurde über das mit den USA geplante Abkommen TTIP gestritten, und es kam schließlich nicht zustande. Am Abkommen mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay wurde während 20 Jahren verhandelt, bevor am 28. Juni 2019 eine prinzipielle Einigung gefunden wurde. Seitdem wurde über Detailfragen diskutiert, auch noch in diesen Tagen.
Nun aber überraschte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Donnerstagmittag mit einem Tweet aus São Paulo, in dem sie während einer Zwischenlandung auf dem Weg nach Montevideo meinte: „Die Ziellinie des EU-Mercosur-Abkommens ist in Sicht“, und sie wolle diese Linie nun überschreiten. Sprich, die EU-Kommissionspräsidentin kündigte an, das Abkommen am Freitag zu unterzeichnen.
Bedenken in großen EU-Staaten
Allerdings hatten in letzter Zeit gewichtige EU-Staaten Bedenken geäußert, allen voran Frankreich. Denn der französische Präsident Emmanuel Macron hat, wohl auch mit Blick auf die innenpolitisch angespannte Lage, das Konfliktpotential des Mercosur-Abkommens erkannt und Nachbesserungen angemahnt. Hauptsächlich im landwirtschaftlichen Bereich. Dieser ist besonders umstritten, denn neben Paris hat sich in den vergangenen Tagen auch Polen quer gelegt. Während in Frankreich die Rinderzüchter Nachteile befürchten, geht es dem polnischen Regierungschef Donald Tusk um die heimischen Geflügelzüchter, die durch lateinamerikanische Importe unter Druck geraten könnten. Neben den beiden großen EU-Staaten haben sich außerdem die Niederlande und Österreich kritisch geäußert, während Medienberichten zufolge ebenfalls Italien wackelt. Damit würde eine Sperrminorität unter den EU-Staaten zustande kommen, die das Abkommen ausbremsen könnte.
Doch auch Luxemburg hatte nach anfänglicher Zustimmung vor einigen Wochen Bedenken angemeldet, als Außenminister Xavier Bettel im November in der Chamber erklärte, dass die Regierung dem Abkommen gegenwärtig nicht zustimmen könne. Auch hierzulande sehen sich die Landwirte einer unfairen Konkurrenz aus den lateinamerikanischen Ländern ausgesetzt.
Noch am Montag erklärte eine Kommissionssprecherin in Brüssel, Ursula von der Leyen habe „im Moment“ keine Reisepläne nach Montevideo. Auch Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ging noch vor einigen Tagen davon aus, dass es erst gegen Ende des Jahres zu einem Abschluss kommen werde, wie auf einer Internetseite der brasilianischen Regierung zu lesen ist. In den vergangenen Tagen habe der für Handel zuständige EU-Kommissar Maros Sefcovic weitere Gespräche mit den Mercosur-Staaten geführt, erklärte die Generaldirektorin für Handel in der EU-Kommission, Sabine Weyand, während einer Sitzung des Ausschusses für internationalen Handel im Europäischen Parlament (EP) am Dienstag.
Martine Aubry: „Ein Desaster für die Landwirte“
Bei den EU-Parlamentariern, die dem Abkommen zustimmen müssen, ist die Skepsis groß. Zumal sie von dessen Inhalt noch keine Kenntnis haben, wie viele von ihnen während der Ausschuss-Sitzung bedauerten. Sabine Weyand war ihrerseits bemüht, die bei den EP-Abgeordneten bestehenden Zweifel zu zerstreuen. Die Ursprungsbezeichnungen europäischer Lebensmittel würden geschützt und die EU-Gesundheits- und andere Schutz-Standards „sind nicht verhandelbar“, versicherte Sabine Weyand. Es gebe „limitierte Quoten“ für den Import sensibler landwirtschaftlicher Produkte zu niedrigen Zöllen aus den Mercosur-Staaten. Diese Importe würden graduell zugelassen und die Kommission habe die Möglichkeit, die Einfuhren zu suspendieren, wenn ernsthafte Ungleichgewichte auf dem europäischen Markt festgestellt werden, so die Generaldirektorin weiter.
Das mochte einige kaum beeindrucken. Das Abkommen sei „ein Desaster für die Landwirte, ein Desaster für die Gesundheit“, echauffierte sich die Vorsitzende der Linken-Fraktion im EP, Manon Aubry, in gewohnter Manier. Andere gaben zu bedenken, dass es wohl schwierig werden würde, die Einhaltung der europäischen Normen zu kontrollieren. Es brauche die geeigneten Instrumente, um die Anwendung der Regeln zu kontrollieren, forderte der italienische S&D-Abgeordnete Brando Benifei. Die schwedische Liberale Karin Karlsbro wiederum meinte, vorgesehen sei, dass laut Abkommen jährlich 99.000 Tonnen Rindfleisch aus den Mercosur-Ländern in die EU importiert werden, auf die weiter Zölle erhoben würden. Das seien gerade einmal 1,5 Prozent des Rindfleischkonsums in der EU. Zwar sollten die Bedenken der europäischen Landwirte ernst genommen werden, so die Schwedin weiter. Doch hätte der EU-Rindfleischsektor in den vergangenen Jahren im Verhältnis Ein- und Ausfuhren eine Nettoposition innegehabt, so Karin Karlsbro.
Größte Freihandelszone der Welt
Doch auch Klima- und Umweltschutz-Fragen spielen bei Freihandelsabkommen eine Rolle. Darauf ging Sabine Weyand ebenfalls ein, als sie versicherte, dass die sogenannte Entwaldungsverordnung noch vor dem Mercosur-Abkommen umgesetzt werde. Mit dieser Verordnung will die EU den Waldbestand in Drittstaaten schützen und kein Palmöl, Kakao, Kaffee, Rindfleisch und Soya mehr importieren, wenn sie von Flächen stammen, die nach dem Jahr 2020 abgeholzt wurden. Die Entwaldungsverordnung soll nach einer Einigung zwischen dem EP und den EU-Mitgliedstaaten erst ab Ende Dezember 2025 in Kraft treten. Zudem soll die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens Bestandteil des Freihandelsabkommens werden. Dabei wird sich jedoch die Frage gestellt, wie sich der argentinische Präsident Javier Milei dazu verhält, der das Pariser Klimaabkommen ablehnt.
Eigentlich sollte die Latte für den Abschluss von Freihandelsabkommen, was die Verpflichtungen der Gegenseite anbelangt, ziemlich hoch liegen. Die Europäer stellen hohe Anforderungen vor allem in Sachen Verbraucherschutz-, Umwelt- und Sozialstandards. Das hat sich insbesondere bei den Diskussionen über Ceta gezeigt, dem Freihandelsabkommen mit Kanada. Der Unterzeichnung des Abkommens im Oktober 2016 waren monatelange Diskussionen vorausgegangen, unter anderem darüber, ob Kanada alle Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in nationales Recht umgesetzt hatte. Ottawa musste damals im Eiltempo entsprechende gesetzliche Nachbesserungen vornehmen.
Mit dem Mercosur-Freihandelsabkommen würde die größte Freihandelszone der Welt geschaffen, die rund 715 Millionen Menschen umfasst. Laut EU-Kommission würden europäische Exporteure rund vier Milliarden Euro an Zöllen sparen. Diese würden weitgehend abgeschafft oder reduziert, wovon 91 Prozent des Warenaustauschs zwischen den beiden Wirtschaftsräumen betroffen wären. Vor allem Deutschland und Spanien setzen sich für das Abkommen ein. Denn insbesondere die Automobil-Industrie, aber auch die Pharma- und Chemie-Industrie würden davon profitieren.
Positive Reaktion aus dem EU-Parlament
Hervorgehoben wird zudem die geopolitische Komponente des Abkommens. Denn auch auf dem lateinamerikanischen Kontinent ist China dabei, handelspolitische Pflöcke einzuschlagen. Noch vor wenigen Wochen war der chinesische Präsident Xi Jinping in Peru, wo er der Eröffnung eines mit chinesischer Unterstützung gebauten Hafens beiwohnte. Die Europäer wollen daher nicht außen vor bleiben und mit dem Abkommen Allianzen mit demokratischen Staaten stärken, wie es am Dienstag in Brüssel hieß.
Nach der Ankündigung Von der Leyens, das Abkommen unterschreiben zu wollen, meinte der Vorsitzende des Ausschusses für internationalen Handel im EP, Bernd Lange, in einer Mitteilung: „Angesichts einer potenziell turbulenten Weltwirtschaft in naher Zukunft wäre das aktuelle EU-Mercosur-Abkommen ein Hoffnungsträger für die EU.“ Der deutsche Sozialdemokrat warb dafür, „auf Grundlage von Fakten“ in die Diskussionen über das Abkommen zu gehen. „Auch wenn dieses Abkommen möglicherweise nicht unseren höchsten Ansprüchen und Erwartungen entspricht, überwiegen meiner Meinung nach die negativen Folgen eines Scheiterns bei weitem die Schwächen einer nicht perfekten Einigung“, meinte Bernd Lange.
Sollte das Abkommen heute unterzeichnet werden, wird es vorerst in alle Amtssprachen übersetzt und anschließend sowohl den EU-Staaten als auch dem EU-Parlament zur Genehmigung vorgelegt. Die EU-Kommission werde dann ebenfalls entscheiden, auf welcher rechtlichen Basis das Abkommen angenommen werden soll, wie ein Sprecher der Kommission am Donnerstag in Brüssel erklärte. Je nachdem, müsste das Abkommen dann auch den nationalen Parlamenten zur Ratifizierung vorgelegt werden.
Mercosur und Luxemburg
Nach Angaben der EU-Kommission würden:
– 130 Unternehmen aus Luxemburg Waren in die Mercosur-Staaten exportieren;
– 79 Prozent dieser Betriebe zu den klein- und mittelständischen Unternehmen zählen;
– Waren im Wert von 405 Millionen Euro von Luxemburg in die Mercosur-Staaten exportiert;
– im Gegenzug Waren im Wert von 119 Millionen aus den lateinamerikanischen Staaten nach Luxemburg importiert.

De Maart

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