Mohammed steht barfuß vor seinem Zelt unter dem Pont Adolphe. Es ist Donnerstagmittag. Ein kalter Wind pfeift zwischen den Brückenpfeilern hindurch, weht das feuchte Herbstlaub für die Füße der jungen Männer, die hier ihr Lager aufgeschlagen haben. „Als ich hier ankam, waren es mehr“, sagt Mohammed. „Aktuell sind wir sechs Personen.“ Sechs junge Männer, die in einem kleinen provisorischen Zeltlager leben, unter einem Bogen des Pont Adolphe. Neben einem orangefarbenen Bauschuttcontainer, der mehr schlecht als recht vor der Witterung schützt.
Mohammed ist einer von 27 allein reisenden Männern, Asylsuchenden, denen das nationale Aufnahmezentrum (ONA) – Stand 31. Oktober – kein Bett zuweisen konnte. Aufnahmestopp, die Kapazitäten sind erreicht. 7.703 Betten stehen dem ONA zur Verfügung. Alle voll.
In seinen letzten Wochen als Außenminister und Minister für Immigration und Asyl hat Jean Asselborn (LSAP) eine neue Regelung eingeführt: Seit dem 23. Oktober werden allein reisende Männer, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, nicht mehr automatisch in die Erstaufnahmeeinrichtung aufgenommen. Das ONA sichtet alle Personen, schätzt ihre Schutzbedürftigkeit ein und erstellt eine Warteliste.
Viel Empörung über eine neue Regel
Mohammed ist Freitagabend vor einer Woche in Luxemburg angekommen. Am Montag, dem 30. Oktober, macht er sich auf den Weg zur „Direction de l’immigration“. Da gelten die neuen Regeln schon. Mohammed bekommt keinen Schlafplatz, nur eine Nummer. Er muss zurück auf die Straße, steht jetzt auf einer Warteliste. Wie lange er warten muss, kann man ihm nicht sagen. Jeden Abend um 19 Uhr kommt er beim Büro vorbei. Schaut, ob seine Nummer aushängt. Dann bekäme er eine Unterkunft. Eine Unterkunft, die ihm rechtmäßig zusteht.
Auch deshalb hat die neue Regelung in den vergangenen Tagen große Empörung hervorgerufen. Asselborn hat sich erklärt. Bei RTL. Es gehe nicht anders. Der Luxemburger Flüchtlingsrat hat kritisiert. Asselborn hat sich wieder erklärt. Man wolle die Verletzlichsten schützen, deshalb müsse man Prioritäten setzen. Am Donnerstagabend sagte der Minister dann gegenüber RTL, 15 der Flüchtlinge, die momentan auf der Straße leben, sollen ab Freitag in der Luxexpo unterkommen. Dort sind nur sogenannte „Dubliner“ untergebracht, Flüchtlinge, die unter die Dublin-Regeln fallen. Zu ihnen zählt auch Mohammed.

Mohammed stammt aus Conakry, der Hauptstadt von Guinea, an der Westküste Afrikas. Im September 2021 putschte dort eine Militärjunta gegen den ersten demokratisch gewählten Präsidenten Guineas, Alpha Condé. Das Militär setzte Condé fest und bildete eine Übergangsregierung. Obwohl man freie Wahlen und die Rückkehr zu einer Zivilregierung versprach, befindet sich das Land seither unter Kontrolle des Militärs.
Vor einigen Monaten ist Mohammed aus Conakry, seiner Heimat, aufgebrochen. Sein Weg führt ihn über Mali durch die Sahara nach Libyen, dann nach Tunesien. Von dort aus setzt er übers Mittelmeer nach Europa über. Landet schließlich in Italien. Was genau auf dem Weg passiert ist, erzählt Mohammed nicht. Nur, dass man ihn in Italien zwingt, seine Fingerabdrücke abzugeben. Die illegale Einreise nach Europa wird festgestellt. Einen Monat verbringt er dort. Dann geht es weiter, über die Schweiz und Frankreich nach Luxemburg.
Das Dublin-System vor dem Scheitern?
Vom Pont Adolphe, dem vorläufigen Endpunkt von Mohammeds Flucht, sind es nur wenige Minuten bis zu den Büros von Passerell. Die Hilfsorganisation sitzt in einem schmalen Haus mit Blick auf die Gleise. Neben den Médecins du Monde, der Caritas und der ASTI sind sie Teil des Luxemburger Flüchtlingsrats. Die Räume von Passerell sind gemütlich, es gibt Couches und Sessel. In der Mitte des Raumes liegen zwei Zelte, daneben ein Karton mit Decken und Winterkleidung. „Wir bekommen gerade sehr großzügige Spenden aus der Zivilbevölkerung“, sagt Marion Dubois, Direktorin von Passerell, „dafür sind wir sehr dankbar.“

Auf der Pressekonferenz des Flüchtlingsrats am vergangenen Dienstag hat Dubois deutliche Worte gefunden. Sie nannte die Situation, in die sich die Luxemburger Politik manövriert hat, „skandalös“, setzte sich zusammen mit den anderen Organisationen des Rates für eine sofortige Abschaffung des Aufnahmestopps ein. An diesem Donnerstag ist sie enttäuscht über die Antwort Asselborns auf die Forderungen des Flüchtlingsrats. „Sie hätten es kommen sehen müssen“, sagt Dubois. Die Auslastung der Unterkünfte, der Zustrom an Menschen, das alles sei bekannt gewesen. Selbstverständlich sehe sie, dass die Strukturen voll seien, dass es auch allgemein Wohnungsnot in Luxemburg gebe. Aber das Land habe eben eine rechtliche Verpflichtung, diese Menschen unterzubringen. Dubois vergleicht die aktuelle Lage mit der Situation zu Beginn des Krieges in der Ukraine. Damals kamen binnen weniger Tage sehr viele Menschen in Luxemburg an. Eine große Herausforderung, aber man habe sie gemeistert. „Warum tut die Politik das nicht wieder?“
Mag sein, weil es hier jetzt um sehr grundsätzliche Dinge geht. Die Solidarität und den Zusammenhalt in Europa, zum Beispiel. In einem Interview mit dem Wort verteidigte sich Asselborn. Was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht, sei Luxemburg „Opfer eines nicht funktionierenden Dublin-Systems“. Die Europäische Kommission schaue dabei zu, wie Länder wie Italien das Dublin-System abschaffen.
Sie hätten es kommen sehen müssen
In der Bestandsaufnahme des Scheiterns stehen der Minister Asselborn und die Direktorin Dubois gar nicht so weit auseinander. Der eine beklagt das Zusammenbrechen der europäischen Solidarität. Die andere sieht in Dublin ein unfaires und nicht funktionierendes System. Nur mit der Opferrolle Luxemburgs, da möchte Dubois vehement widersprechen.
Was Asselborn in den vergangenen Wochen immer wieder betont hat: Die neu eingeführten Wartelisten gelten nur für sogenannte „Dubliner“, also Männer, die bereits in einem anderen EU-Land einen Antrag auf internationalen Schutzstatus gestellt haben. Das sei richtig, sagt Dubois. Aber um das richtig einordnen zu können, müsse man zuerst verstehen, wie das Dublin-Verfahren abläuft. Dubois‘ Kurzversion: „Es gibt im Wesentlichen drei Punkte, um zu entscheiden, welcher EU-Staat das verantwortliche Land für das Asylgesuch ist. – Der erste: Gibt es irgendwo Familienmitglieder, einen Ehepartner, minderjährige Kinder? Dann ist es dieses Land. – Zweiter Punkt: Hat ein Land der Person schon einmal ein Visum oder eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt? Dann ist es dieses Land. – Und der dritte Punkt: das Kriterium des ersten Ankunftslandes.“ Das Land, in dem die illegale Einreise nach Europa festgestellt wird. Das Land, in dem man seine Fingerabdrücke abgibt. Im Fall von Mohammed und so vielen anderen Flüchtlingen ist das: Italien. Regiert von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihren postfaschistischen Fratelli d’Italia.
Gemeinden in die Verantwortung ziehen
„Was jetzt gerade passiert“, sagt Dubois, „ist, dass Italien nicht mehr im Dublin-Verfahren kooperiert.“ Auch Asselborn lässt sich im Wort-Gespräch über das EU-Land aus: „Es sind im Sommer viele Menschen aus Tunesien in Italien angekommen. Was hat Italien gemacht? Sie haben Asylanträge durchgewunken, die Menschen in Busse gesetzt, sie dann bis in den Norden des Landes gefahren. Von da aus sind sie mit dem Zug nach Luxemburg gekommen.“

Asselborn habe recht, sagt Dubois, es sollte mehr Solidarität geben in der EU. Aber auch wenn das System funktioniere, so die Passerell-Direktorin, sei es unfair. Luxemburg sei sehr glücklich gewesen mit Dublin, solange es lief. Als europäisches Binnenland ist man selten der erste Eintrittspunkt in die EU. Und damit selten zuständig für das Asylgesuch. Richtig ist jedoch auch: Auch wenn Asylsuchende in Luxemburg, die unter die Dublin-Regeln fallen, in das Land zurückgeschickt werden sollen, in dem sie zum ersten Mal die EU betreten haben (meist Italien, das nicht mehr kooperiert und deshalb auch keine Leute zurücknimmt), gelten für sie dieselben Rechte wie für alle anderen Asylsuchenden. Eines davon ist das Recht auf eine Unterkunft.
Für Dubois sieht die schnellste und leichteste Lösung für das akute Aufnahmeproblem so aus: „Es gibt Orte, wo man Menschen unterbringen könnte, aber die sind in Privatbesitz. Man müsste die Leute zwingen, sie zu öffnen.“ Staat und Gemeinden in Luxemburg sollten aufhören, die Verantwortung hin- und herzuschieben. Bislang macht Minister Asselborn den Gemeinden nur Vorschläge. Von Zwang noch keine Spur. Am Donnerstag wiederholte er seinen Solidaritätsaufruf an die Gemeinden: Wenn diese dem Staat 10 Ar Land zur Verfügung stellen, baut der Staat eine Struktur für 35 Flüchtlinge, ohne dass es die Gemeinden etwas kostet.
Und wie können langfristige Lösungen dieses Problems aussehen? Dubois und der Flüchtlingsrat haben sich mit meiner Gesprächsanfrage an die Arbeitsgruppen der Koalitionsverhandlungen von CSV und DP gewandt. Was würde sie Frieden und Co. sagen wollen? „Arbeitet an der Integration. In den Unterkünften leben zum Teil anerkannte Flüchtlinge. Dabei sind diese Orte eigentlich nur für Asylsuchende gedacht.“ Der Wohnungsmarkt in Luxemburg aber sei so blockiert, dass die Anerkannten nicht ausziehen könnten, so Dubois. Außerdem gelte deren Status nur in Luxemburg, sie dürfen die Grenzen des Landes nicht überschreiten, um dort günstigeren Wohnraum zu finden – wie so viele Luxemburger es tun. Dubois fordert deshalb: Man solle sofort bei Ankunft von Asylsuchenden mit der Integrationsarbeit beginnen. „69 Prozent der Asylsuchenden in Luxemburg bekommen eine positive Antwort.“ Bei so einer Quote sei jede Woche auf der Straße eine verlorene Woche.
Der Diskurs verschärft sich
Was die Zukunft angeht, zeigt sich Dubois pessimistisch. „Der Aufnahmestopp wurde von einem sozialistischen Minister getroffen. Die Wahlen aber hat eine konservativ-liberale Koalition gewonnen, mit anderen Ideen in der Migrationspolitik.“ Ihre Hoffnung setzt Dubois in die Justiz. „Wir haben auf individueller Ebene Beschwerde gegen die aktuelle Maßnahme eingereicht. Wenn die Antworten hier im Land nicht zufriedenstellend ausfallen, haben wir immer noch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.“
Europa als Hoffnung, aber auch als Schreckensszenario. Dubois ist besorgt darüber, dass sich Luxemburg in Zukunft an anderen europäischen Ländern orientieren könnte. Ländern, die vormals eine eher liberale Migrationspolitik betrieben haben, nun aber einen härteren Ton anschlagen. In Deutschland sorgte vor wenigen Wochen ein Spiegel-Interview mit SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz für Diskussionen, in dem er feststellte: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“ CDU-Politiker Jens Spahn sprach kürzlich davon, dass „irreguläre Migrationsbewegungen“ gegebenenfalls mit „physischer Gewalt“ aufgehalten werden müssen.
Der politische Diskurs um Migration verschärft sich gerade in Europa. Auch in Luxemburg. Dubois vermutet, dass man damit Menschen abschrecken möchte. Abschrecken von der Flucht. Der Wind ist rauer und kälter geworden in Europa in diesen Tagen. Auch unter dem Pont Adolphe. Warum er denn ausgerechnet nach Luxemburg kommen wollte, fragt man Mohammed. „Luxemburg ist das Land meiner Träume“, antwortet er. Dumme Frage, was soll dieser junge Mann darauf auch antworten? Jetzt, in diesem Moment, im kalten Nieselregen, ein Mensch zwischen zwei Brückenpfeilern, zwischen EU-Staaten, die um ihre Solidarität miteinander ringen, mit Menschen wie Mohammed – oder eben nicht. „Wir brauchen eine Unterkunft“, sagt der junge Mann dann noch. „Es ist nicht einfach hier draußen.“

De Maart
Die alte Regierung war nicht fähig Unterkünfte für junge Luxemburger zu schaffen welche jetzt im Ausland leben müssen. Unterkünfte zum Ersten für junge luxemburger Familien. Es genügt jetzt viel Steuergeld für Flüchtlingsunterkünfte auszugeben.
Wer sagt er hätte nicht gewusst was auf uns zukommt der lügt oder er ist einfältig. Und übrigens: Was sagt der Vatikan? Größter Immobilienbesitzer der Welt mit leerstehenden Häusern. Erhebt mahnend den Finger und predigt Nächstenliebe.
"Vor einigen Monaten ist Mohammed aus Conakry, seiner Heimat, aufgebrochen." Warum ???
"Dann geht es weiter, über die Schweiz und Frankreich nach Luxemburg." ???
Bitte die Geschichte komplett erzählen!
…wann d‘Moss voll as an ophalen iert d‘Fass iwer leeft. Geschter Owend man Bus an d‘Stadt….,dei nächste keier erem mam Auto, a geschwen guer net mei an d‘Stadt.
Am luxembuerger Wesen soll die EU genesen ? Wir sollten nicht froemmer sein als Papst Franciscus . Wenn eine Militaerdiktatur oder Krieg ein Asylgrund sein soll ,dann sind allein in Guinea 14 Millionen Menschen asylberechtigt ,und 20000 Boko Haramkaempfer machen 230 Millionen Nigerianer zu Asylberechtigten .
Ein altes luxemburgisches Sprichwort sagt "Wou näischt ass, huet de Keeser säi Recht verluer".
Es kann sich niemand darauf berufen, einen Anspruch auf eine Unterkunft zu haben, wenn einfach keine Unterkünfte mehr da sind.
Es kommen immer mehr Menschen in die EU, da ist doch klar, dass nicht alle untergebracht werden können.
Das Problem besteht ja nicht nur in Luxemburg, sondern auch in Deutschland und in anderen EU-Ländern.