Für den deutschen Kanzler Olaf Scholz war es in der Nacht zum Freitag fast so wie Weihnachten. Er flog mit dem wohligen Gefühl zurück, in Brüssel soeben ein „Herzensprojekt“ in trockene Tücher gebracht zu haben. Bereits als Finanzminister hatte er den Durchbruch zur Mindestbesteuerung großer internationaler Unternehmen gefeiert. Doch der letzte Haken wurde Stunden vor dem Gipfel wieder fraglich, als Polen weiteren „Fragebedarf“ anmeldete. Die Gipfelnacht schien wieder bis zum frühen Morgen zu gehen. Sie war dann aber bereits um 22.30 Uhr vorbei. Und überall verkündeten die EU-Verantwortlichen vor ihren heimischen Medien, was da alles binnen gut zwölf Stunden gelungen sei.
Vom äußeren Schein her kann sich die Liste sehen lassen. Die Ukraine bekommt von der EU 18 Milliarden Euro, um Infrastruktur reparieren und Renten auszahlen zu können. Der Fonds zum Waffenkauf wird um zwei Milliarden aufgestockt. Im Streit mit den USA um deren Klimaschutzpaket formulierten die 27 eine einvernehmliche Krisenstrategie. Und auch beim Gaspreis kommt Montag bei der Ratssitzung der Energieminister ein Deckel drauf, nachdem ihre Chefs einen Verständigungskorridor gefunden haben.
Nebenan brachten die Botschafter das neunte und lange blockierte Sanktionspaket auf den Weg – mit Entzug der Sendelizenzen für weitere Kreml-Propagandamedien, zusätzlichen Namen auf der Liste der sanktionierten russischen Kriegsakteure und Exportverbot für weitere Technik, die Moskau etwa für Jets und Drohnen verwenden könnte. Die Lieferung von Getreide und Düngemittel wurde ausdrücklich ausgenommen, damit sowohl die Ukraine wie auch Russland die Welternährung stützen können.
Seit dem 24. Februar einen weiten Weg zurückgelegt
Ebenfalls auf der Gipfel-Beschlussliste: Der Kandidatenstatus für Bosnien-Herzegowina, die Blockade von 6,3 Milliarden Euro von EU-Geldern für Ungarn wegen der dortigen unzureichenden Korruptionsbekämpfung, die nächsten Schritte zur gemeinsamen Rüstungsbeschaffung, die weitere Unterstützung Moldawiens und die Erwartung, die ungelöste Migrationskrise auf einem Sondergipfel Anfang Februar in den Griff zu bekommen.
Der Gipfel sei ein „kurzer und konstruktiver“ gewesen, meinte der deutsche Kanzler in seiner persönlichen Bilanz. Europa habe gezeigt, „geschlossen und kraftvoll“ auf die Krisen der Welt reagieren zu können. Ist dieser Nachweis tatsächlich gelungen? Gemessen an den monatelangen Streitigkeiten verlief der Jahresendgipfel tatsächlich harmonisch. Ungarn und Polen überstrapazierten ihre Veto-Macht nicht, und sowohl die Ukraine-Hilfe wie die Mindestbesteuerung sind echte Fortschritte.
Gemessen an der Situation Europas am Tag, als Russland die Ukraine überfiel, ist in der Tat ein weiter Weg zurückgelegt worden. Das unterschwellige Gefühl der meisten Verantwortlichen am 24. Februar erstreckte sich vor allem auf die bange Befürchtung, dass die Ukraine eine Woche später Geschichte sein könnte. Kaum einer konnte sich vorstellen, dass knapp zehn Monate später Deutschland einer der größten Waffenlieferanten sein und auch dadurch ein Zurückdrängen der Invasoren in Teilen gelingen könnte. Erst recht galt es als unwahrscheinlich, dass der Anteil russischen Erdgases in der EU von 40 auf neun Prozent sinken und die Speicher vor dem Winter dennoch nahezu voll sein würden.
Russlands Waffenschmieden produzieren, die EU plant
Insofern geht der Zwischenbefund von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen grundsätzlich in Ordnung, wonach die EU Jahre gebraucht habe, um die Finanzkrise zu meistern, Wochen nötig gewesen seien, um sich auf die Erfordernisse der Corona-Krise einzustellen und das Umschalten auf neue Prioritäten in der durch Russlands Krieg ausgelösten Krise binnen Tagen gelungen sei.
Doch das Erreichte ist nicht einmal Anlass für ausgedehntes Luftholen. Denn trotz der Beschlussliste sind die grundsätzlichen Probleme keinesfalls gelöst. Europa droht weiterhin, im Konflikt der Systeme zwischen China und den USA wirtschaftlich unter die Räder zu kommen. Die Strukturen in der EU sind weiterhin weit von Wettbewerbsfähigkeit entfernt, die Klimaziele zwar gesetzt, aber längst nicht angepackt. Deutschland und Frankreich haben ihren gemeinsamen Neustart für Europa immer noch vor sich. Und vor allem: Der Krieg hält an. Beiden Seiten geht die Munition aus, aber Russlands Waffenschmieden arbeiten seit Monaten auf Hochtouren, die europäischen Produktionen sind bislang nur geplant. Und ein Fakt musste besonders schmerzen: Am Abend beschlossen die EU-Verantwortlichen, dass Russlands Bombardierungen der ukrainischen Energieversorgung verbrecherisch seien und nicht unbestraft bleiben dürften. Am nächsten Morgen startete Russland über 70 neue Angriffe.
Somit lautet das Fazit: Noch ist die EU nicht nachhaltig gestärkt, aber sie hat die Chance nicht vertan, es am Ende des Krieges zu sein. Auf dem Weg kann jedoch noch vieles schief laufen.
De Maart
@Romain C.
Europa braucht nicht gezogen zu werden, Europa schmeisst sich selbstständig in den Abgrund! Oh Amerika, wir hören dich Beifall klatschen...
Die USA Hörigkeit und der Russlandhass werden Europa in den Abgrund ziehen.