Dienstag21. Oktober 2025

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Unterwegs bei den NachbarnUnsere große Wahlkampf-Reportage: Hinter der Grenze lauert die Polizei – oder Alice Weidel

Unterwegs bei den Nachbarn / Unsere große Wahlkampf-Reportage: Hinter der Grenze lauert die Polizei – oder Alice Weidel
Tageblatt-Journalist war eine Woche im deutschen Wahlkampf im Saarland unterwegs und weiß jetzt: Gleich hinter der Grenze lauert entweder die Bundespolizei oder Alice Weidel – unser Longread am Wahlsonntag Foto: AFP/Jens Schlüter

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Wenn es um Deindustrialisierung in Deutschland geht, ist das Saarland Spitze. Und trotzdem wollen im Wahlkampf lieber alle über Migration sprechen? Während die einen den Kanzler verstecken und die anderen über Kontrollen streiten, wird es düster in Deutschland. Der dritte und letzte Teil unserer Reportage-Reihe aus dem Wahlkampf hinter der Grenze.

Fährt man dieser Tage in Schengen von der Autobahn ab, um die Grenzkontrollen nach Deutschland und den Stau zu umgehen, den sie verursachen, dann begegnet einem als Erstes Alice Weidel. Das Gesicht der AfD-Spitzenkandidatin prangt auf dem allerersten Wahlplakat hinter der Grenze, hoch oben an einem Laternenpfahl am Ende der Moselbrücke zwischen Schengen und Perl. „Zeit für Alice“, willkommen in Deutschland.

Das passt ganz gut, denn von Willkommenskultur ist dieses Deutschland, knapp zehn Jahre nach dem Sommer 2015, ziemlich weit entfernt. Es ist Wahlkampf im Winter und nicht nur die Temperaturen sind kalt. Es geht um Grenzkontrollen und Sicherheit, um Zurückweisungen und Abschiebungen, um das „Zustrombegrenzungsgesetz“ – ein in schlechtester deutscher Tradition entmenschlichender Begriff, der am Ende sagen will: Wir müssen bei der Migration endlich hart durchgreifen. Dabei treibt Weidel und ihre in Teilen rechtsextreme Partei die demokratische Mitte vor sich her. Die AfD wird in einigen Gemeinden im Saarland, nicht weit hinter der luxemburgischen Grenze, wohl zum ersten Mal in ihrer Geschichte stärkste Kraft werden.

Wenn man also von Luxemburg nach Deutschland fährt in diesen Tagen, muss man entweder an Alice Weidel vorbei – oder an der stationären Grenzkontrolle der Bundespolizei. Die hat Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gerade wieder um ein halbes Jahr verlängern lassen. Sein Konkurrent, Bald-Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), hat gar dauerhafte Grenzkontrollen an den deutschen Außengrenzen angekündigt.

Grenzkontrollen „grenzraumverträglich“

Der Grenzgänger: CDU-Kandidat Philip Hoffmann
Der Grenzgänger: CDU-Kandidat Philip Hoffmann Foto: Editpress/Hervé Montaigu

Merzig, Stadtteil Ballern, liegt ein paar Minuten mit dem Auto hinter der Grenze. Einmal durch den Tunnel am Pellinger Berg, schon ist man da. Hier lebt Philip Hoffmann, er tritt im Grenzwahlkreis Saarlouis als Direktkandidat für Merz’ CDU bei der Bundestagswahl an. „Die Grenze gab’s für mich noch nie“, sagt Hoffmann. Es ist ein sonniger Donnerstagvormittag, zehn Tage vor der Wahl. An seinem Esstisch erzählt Hoffmann, Jahrgang 1988, von seinen ganz persönlichen Erfahrungen mit dem Schengen-Abkommen. Kindergarten in Frankreich, Schule in Deutschland, Studium in Luxemburg. Philip Hofmann ist ein Grenzgänger, im mehrfachen Sinn. Er arbeitet im Finanzsektor in Luxemburg, fährt täglich bei Schengen über die Grenze. „Ich bin kein großer Fan der Kontrollen“, sagt der CDU-Politiker. Hoffmann ist aber auch schon ganz wörtlich an die Grenze gegangen. 2020 war das, mitten in der Corona-Pandemie. Aus Protest gegen die geschlossenen Grenzen wanderte Hoffmann zusammen mit einem Freund die gesamte saarländische Grenze zu Frankreich und Luxemburg ab. 180 Kilometer in einer Woche, ein Zeichen für offene Grenzen und das Schengen-Abkommen.

Der größte grenzüberschreitende Arbeitsmarkt in der EU, freier Personen- und Warenverkehr, das sind Dinge, die ihm wichtig sind. „Da müssen wir mittel- und langfristig wieder hin.“ Hoffmann spürt aber auch den Druck aus der Bevölkerung, endlich Lösungen in der Migrationsfrage zu finden. Die deutschen Kontrollen stellen für Hoffmann keinen nationalen Alleingang dar, sondern den Beginn einer Dynamik, der am Ende zu besseren Kontrollen an den Außengrenzen führen soll.

Am Tag als sein Kanzlerkandidat Friedrich Merz dauerhafte Grenzkontrollen fordert, setzt sich Hoffmann sofort mit Parteikollege Roland Theis zusammen. „Ich habe ihm gesagt: Wir brauchen hier für uns eine andere Lösung.“ Theis ist Spitzenkandidat der saarländischen CDU, er tritt im Nachbarwahlkreis St. Wendel an. In der Talkrunde der Bundestagskandidaten beim Saarländischen Rundfunk (SR) sagt Theis wenige Tage später, man müsse die Grenzkontrollen „grenzraumverträglich umsetzen“.

Die Position der Saar-CDU: Grenzkontrollen sind aktuell notwendig, aber man muss sie nicht an der Grenze machen und schon gar nicht dauerhaft. Wenn die Bundespolizei die Befugnis bekäme, auch hinter der Grenze zurückweisen zu können, könnte man auf die stationäre Kontrolle in Schengen verzichten. Das sieht man bei der CDU im Bund anders. „Jemandem, der nicht an der Grenze wohnt, ist die Situation der Grenzgänger leider ziemlich egal“, sagt Hoffmann. Friedrich Merz selbst lebte und arbeitete Anfang der Achtzigerjahre einige Jahre in Saarbrücken. Doch das war offensichtlich vor Schengen und den offenen Grenzen. Philip Hoffmann will sich in Berlin deshalb für die Perspektive der Großregion starkmachen. „Man muss laut werden in seiner Partei.“

Erst die Gemeinde, dann die Partei: Bürgermeister Ralf Uhlenbruch
Erst die Gemeinde, dann die Partei: Bürgermeister Ralf Uhlenbruch Foto: Editpress/Alain Rischard

Ein paar Stunden später bei einem, der in dieser Sache ebenfalls mit seiner Partei über Kreuz liegt: Zurück an der Grenze empfängt Ralf Uhlenbruch, CDU-Politiker und Bürgermeister der Gemeinde Perl, in seinem Rathaus an den Hängen der Mosel. Auch er setzt sich, zusammen mit seinen Amtskollegen aus dem Dreiländereck, dafür ein, die Grenzkontrollen ins Landesinnere zu verlegen, noch besser an die EU-Außengrenzen, weg jedenfalls von den Bereichen, „in denen man hier gut zusammenarbeitet“. Als Bürgermeister sieht sich Uhlenbruch in erster Linie seiner Gemeinde verpflichtet und nicht der Partei. „Jede Maßnahme, die man trifft, die das Symbol Schengen angreift, ist eine schlechte Maßnahme“, sagt Uhlenbruch. Vielmehr sei es an der Zeit, zusammen mit den anderen EU-Staaten geeignete Mittel zu finden. „Mit Alleinlösungen wird das nicht funktionieren“, sagt der Perler Bürgermeister.

Solch eine klare Kante zeigt der Saarbrücker Oberbürgermeister in diesen Tagen nicht. Uwe Conradt ist ebenfalls ein Parteikollege von Merz, Theis, Hoffmann und Uhlenbruch. Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) hatte OB Conradt die Grenzkontrollen zu Luxemburg und Frankreich kürzlich noch als „nationalstaatliche Symbolpolitik“ bezeichnet, in einem Brief an Kanzler Scholz und den französischen Präsidenten Emmanuel Macron forderte er ein sofortiges Ende der Grenzkontrollen in beide Richtungen am Saarbrücker Grenzübergang Goldene Bremm. Kurze Zeit später scheiterte im Stadtrat jedoch eine gemeinsame Resolution für offene Grenzen an einem überraschenden Rückzieher der CDU-Fraktion. Bei der SPD interpretierte man dieses Umfallen als Einfluss der Bundespartei im Wahlkampf.


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Kanzler zu verstecken

Die Christdemokraten im Saarland sind nicht die Einzigen, die in diesem Wahlkampf mit der Bundespartei im fernen Berlin zu kämpfen haben. Die SPD hat gleich mehrere Probleme und sie hängen alle irgendwie miteinander zusammen. Das Problem Nummer eins heißt Olaf Scholz und ist Bundeskanzler – wenn auch einer der unbeliebtesten in der Geschichte. Ein bisschen beschleicht einen in diesen Tagen das Gefühl, dass sie bei der SPD den Kanzler lieber verstecken wollen. Ende Januar ist Scholz zum Wahlkampfauftakt in Saarbrücken. Plakate gibt es keine. Wäre da nicht der Polizeischutz rund um die Kongresshalle, man käme nicht auf die Idee, der Bundeskanzler sei da. „Man muss mit dem arbeiten, was man hat“, heißt es ein paar Tage später an einem SPD-Wahlkampfstand diplomatisch und mit müdem Lächeln.

Polizist und Gewerkschafter: SPD-Kandidat David Maaß
Polizist und Gewerkschafter: SPD-Kandidat David Maaß Foto: Editpress/Julian Dörr

Je näher die Wahl rückt, desto kälter wird es. Freitagmittag, neun Tage vor der Wahl. David Maaß ist gut zu erkennen vor dem Pavillon auf dem Kleinen Markt in Saarlouis. Er trägt eine rote Daunenjacke, beinahe exakt in SPD-Rot. Maaß tritt für die Sozialdemokraten im Wahlkreis Saarlouis an. Das Rennen läuft zwischen ihm und dem CDU-Mann Hoffmann. Das hat Tradition in diesem Wahlkreis, der einst Heimat von zwei nationalen Politikgrößen war: Peter Altmaier (CDU), Merkels Kanzleramtschef, wurde hier drei Mal in Folge 2009, 2013 und 2017 direkt in den Bundestag gewählt. 2021 verlor Altmaier gegen Heiko Maas (SPD), einst Justiz- und Außenminister.

„Wir sind im Saarland stolz auf unseren Schengenraum“, sagt Maaß. Bundeskanzler Scholz hat da gerade die Grenzkontrollen verlängert, das zweite Problem der SPD in diesem Wahlkampf. Die Sozialdemokraten wollen zeitlich begrenzte Kontrollen aus Gründen der aktuellen Sicherheitslage. Maaß, 40 Jahre alt, Polizist und Polizeigewerkschafter, hat sich mit der Bundespolizei unterhalten. Die aktuelle Regelung führe zu keiner „größeren Problematik im Binnenverkehr und im Warenaustausch“, sagt Maaß. „Es wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“ Der SPD-Kandidat findet die Kontrollen „sinnvoll“, sie dürften aber „kein Dauerzustand“ sein. Merz’ Forderungen nach dauerhaften Grenzkontrollen sind für ihn europarechts- und verfassungswidrig, er nennt sie den „Tod des Schengenraums“. Stattdessen, so der Polizist, müsse man die Bundespolizei so ausstatten, dass sie eine effektive Schleierfahndung im Grenzraum machen könne.

„Das Sicherheitsgefühl der Menschen ist angekratzt“, sagt Maaß. Er merkt das an den Themen, die Menschen mit an seine Wahlkampfstände bringen. Viele wollen über Migration und Sicherheit sprechen. Wenige über Wirtschaft. „So ein kurzer kalter Winterwahlkampf hat nicht das Potenzial, ein thematischer Wahlkampf zu sein“, sagt der SPD-Mann, „er wird sehr emotional geführt.“

Für einen kurzen Moment, vielleicht waren es die Nachwehen der US-Wahl, sah es so aus, als ob Deutschland einen Wirtschaftswahlkampf erleben würde. Die Anschläge von Magdeburg, Aschaffenburg und München änderten das. Das Thema Migration war zurück und verdrängte alles.

Ganz so einfach ist es nicht. An einem Donnerstagabend Anfang Februar ist Friedrich Merz zu Gast in seiner alten Heimat. Es sind noch zweieinhalb Wochen bis zur Wahl. Eine Woche zuvor hat Merz mit Stimmen der AfD einen Antrag im Bundestag durchgebracht und damit einen Eklat ausgelöst. Schon lange bevor Merz die Bühne in St. Ingbert betritt, haben sich vor der Stadthalle zahlreiche Demonstranten versammelt. Ein breites Bündnis, IG Metall ist da, aber auch die Omas gegen Rechts. „Wir sind die Brandmauer“, steht auf einem Schild, auf einem anderen: „Fritze Merz fischt frische Faschos“.

Drinnen redet Merz über vieles – aber erst einmal nicht über Migration oder die AfD. Es geht um den Wirtschaftsstandort Saarland, um Deindustrialisierung, günstige Energiepreise, Bürokratieabbau, Sorge über Trump und Musk, Europas Zusammenhalt, um die Rente und die Gesundheitsbranche. Merz spricht frei und entspannt. Nach einer Stunde: die Grenzkontrollen. Spürbar verhaltener Applaus im Saal. Dann, ganz am Ende seiner Rede, kommt Merz auf die Abstimmung mit der AfD zu sprechen. Unruhe regt sich im Saal. Ein paar Mitglieder der Satire-Partei Die Partei springen auf, unter ihren Hemden und Jacketts tragen sie weiße T-Shirts mit dem RAF-Maschinengewehrlogo, nur dass dort stattdessen CDU steht. Sie rufen „Schande!“ und werden aus dem Saal geführt. Ein CDUler aus dem Publikum kommentiert die Szene mit einem „Ihr seid die Faschisten!“. Und dann ist die Aufregung schon wieder vorbei. Ein mittelalter Herr aus dem Publikum wird dem Reporter aus Luxemburg später sagen: „Grenzkontrollen will hier keiner.“ Das Wichtigste für ihn sei, dass sich Arbeit wieder lohne.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, das Recht auf Asyl gilt und die AfD klingt verdächtig nach 1933

David Maaß, SPD-Kandidat, Polizist und Gewerkschafter

Draußen, es ist mittlerweile dunkel geworden, projizieren die Demonstranten Slogans in fetten Lettern an die Außenwand der Stadthalle: „Merz-Weg-Halle“ oder „Black Rock Matters“. Solche Demonstrationen zu Wahlkampfzeiten, das hat man in Deutschland selten gesehen. Der Ton wird rauer, nicht nur im Bundestag, nicht nur auf Social Media. „Das sind die letzten Versuche, die rot-grüne Deutungshoheit über unsere Geschichte zu behalten“, ruft Merz seinen Parteikollegen zu und meint damit die Demonstranten draußen vor der Halle. „Das geht zu Ende.“ Die Demonstranten würden sich selbst wohl eher als breite und aufmerksame Zivilgesellschaft beschreiben, die den Anfängen wehren will.

Klare Sicht auf die russische Bedrohung 

Eine weitere Demo, eine Woche später. Freitagnachmittag, Valentinstag, neun Tage vor der Wahl. „Fridays for Future Saarland“ hat zur Klimademo gerufen. Mehrere Hundert Menschen versammeln sich auf dem Landwehrplatz in der Saarbrücker Innenstadt. Mit dabei: Jeanne Dillschneider, Landesvorsitzende der saarländischen Grünen und Spitzenkandidatin im aktuellen Bundestagswahlkampf. Zwei Stunden zuvor sitzt sie in einem Café im Nauwieser Viertel um die Ecke und zählt all die Themen auf, die im Wahlkampf bislang hinten runtergefallen sind: Klima, Familienpolitik, die Zukunft im Allgemeinen.

Kaffeerunde mit Interessierten: Jeanne Dillschneider (Mitte links)
Kaffeerunde mit Interessierten: Jeanne Dillschneider (Mitte links) Foto: Annalena Meszkatis

Dillschneider ist Juristin, 29 Jahre alt, sie ist die einzige Kandidatin unter 30, die im Saarland Aussicht auf ein Bundestagsmandat hat. Vor ihr steht ein grüner Matcha Latte, sie hält ihn mit beiden Händen, an ihrem Handgelenk ein Taylor-Swift-Freundschaftsbändchen mit dem Namen „Robert“. Dillschneider hat die saarländischen Grünen aufgeräumt, die jahrelang vom Partei-Patriarchen Hubert Ulrich dominiert wurden, der sich bei der letzten Bundestagswahl mit dem Bundesvorstand der Partei überworfen hatte. Die Deutsch-Französin stellt sich ganz klar gegen Grenzkontrollen: „Wir müssen aufhören in Ländergrenzen zu denken, sondern in der Großregion denken.“ Statt nationaler Alleingänge brauche es dringend ein gemeinsames europäisches Krisenmanagement. Dillschneider befürchtet, dass man die „europäische Einheit aufs Spiel setzt für eine reine Symbolmaßnahme“. Auf Bundesebene hat auch ihre Partei die aktuellen Kontrollen mitgetragen.

Wenn sie Königin von Deutschland wäre, sagt Dillschneider in der SR-Talkrunde, würde sie alle Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abschaffen. In dieser Hinsicht ist Dillschneider ganz und gar Habeckianerin, klare Ansagen sind ihr Politikstil. In der Talkrunde spricht sie als einzige deutliche Worte zu russischen Sabotageaktionen in Deutschland und Europa: „Wir werden schon täglich angegriffen von Putin.“ Dillschneider ist Rechtsanwältin für IT-Recht, Datenschutz und Cybersicherheit. „Es verursacht Milliardenbeträge an Schäden für die Wirtschaft, aber unsere kritische Infrastruktur wird auch schon täglich angegriffen. Das unterschätzt man.“ Was Putin mache, sei hybride Kriegsführung, sagt Dillschneider. Sein Ziel sei es, die Demokratie zu destabilisieren.

Je tiefer man in diesen Wahlkampf hinter der Grenze eintaucht, desto mehr Themen treten hervor. Eines ist von besonderer Brisanz im einstigen Industrieland Saarland: die Sorge vor der Deindustrialisierung.

Für Philip Hoffmann von der CDU, selbst Wirtschaftswissenschaftler, ist Wirtschaft das dringlichste Thema. Er zählt die Firmen auf, die ihr „Engagement verkleinert“ haben in den vergangenen Jahren: der Autobauer Ford und Thyssen-Krupp in seinem Wahlkreis, der Automobilzulieferer ZF in Saarbrücken. In Ensdorf, ebenfalls Hoffmanns Wahlkreis, liegt die Chip-Fabrik des US-Unternehmens Wolfspeed auf Eis. „Es wird nicht so einfach, Neuansiedlungen zu schaffen, weil die Rahmenbedingungen so schlecht sind bei uns gerade“, sagt Hoffmann. David Maaß, sein Konkurrent von der SPD, führt die Milliarden-Fördersummen für die Transformation hin zu grünem Stahl an. Es gibt viele Menschen in diesem Wahlkreis, die in der Großindustrie arbeiten. „Da müssen wir in den nächsten Jahren besser werden“, sagt Maaß. Erschwingliche Energiepreise für energieintensive Betriebe wollen sowohl SPD als auch CDU. Nur der Weg dorthin ist unterschiedlich. Die einen wollen die Schuldenbremse reformieren, damit die Wirtschaft wieder wächst. Die anderen wollen Wachstum, um an der Schuldenbremse festzuhalten.

„Es wird dunkel in Deutschland“

Der Wahlkreis Saarlouis ist zweigeteilt. Ländliche Gegend um Merzig, an der Grenze zu Luxemburg. Industriell geprägt um Saarlouis und die Dillinger Hütte. Das Land ist traditionell schwarz, die Industrie rot. Diese Rechnung geht heute nicht mehr auf. Viele Industriearbeiter, einst klassische SPD-Klientel, sind abgewandert zur AfD. Maaß holt aus: „Ich bin Gewerkschafter, ich bin aber auch Realpolitiker. Wir haben in den letzten Jahren, vor allem auf Bundesebene, sukzessive unsere Stammklientel verloren. Da müssen wir wieder hin. Das Wahlprogramm, das wir jetzt haben, ist genau auf die zugeschnitten, und das ist auch gut so.“ Mehr Politik für den kleinen Mann und die kleine Frau.

Die AfD ist ein wichtiges Thema für Maaß. Man spürt, dass ihn das persönlich anfasst. Und man kann es sehen, auf der Bühne der Aula des Gymnasiums am Stefansberg. Die Landeszentrale für politische Bildung hat zu einer Wahl-o-mat-Veranstaltung geladen. Erstwähler treffen auf Bundestagskandidaten. Mit dabei: Philip Hoffmann, David Maaß und Carsten Becker, Spitzenkandidat der Saar-AfD. Auch hier, bei den Jungwählern, geht es überraschenderweise wenig um Klima, stattdessen dominiert das Thema Migration. Die Diskussion wird hitzig und Maaß teilt gegen Becker aus: „Die Würde des Menschen ist unantastbar, das Recht auf Asyl gilt und die AfD klingt verdächtig nach 1933.“

Man spürt es in diesem Wahlkampf hinter der Grenze, man hört es in Debatten, liest es auf Social Media. Die politische Debattenkultur ist enthemmter geworden. Von allen Seiten. Und auch für Wahlkampfverhältnisse. Viel ist dabei kaputtgegangen. Auch zwischen Parteien, die nach dem kommenden Sonntag wieder in Koalitionen zusammenfinden müssen, damit Deutschland eine stabile Regierung bekommen kann. Wie schwer diese Koalitionsbildung werden wird, davon hat diese Woche im Wahlkampf einen guten Eindruck vermittelt. Die Grünen wollen nicht mehr mit der CDU regieren. Aber auch für viele SPDler ist die Opposition wünschenswerter als eine Neuauflage der GroKo, die schon lange nicht mehr groß ist.

Am Freitagabend, neun Tage vor der Bundestagswahl, veranstaltet die AfD ihren Neujahrsempfang im Saarbrücker Schloss. In den Tagen davor geht das Gerücht um, dass Alice Weidel kommen soll. An der Saarbrücker Ludwigskirche sammeln sich Protestierende, die dritte Großdemo in einer Woche. Sie ziehen zum Schloss, vereinigen sich mit der Klimademo von „Fridays for Future“. Antifaschisten, Klimaschützer, Omas for Future, Omas gegen Rechts. Die Zivilgesellschaft zeigt Haltung. Und während im Barockschloss die AfD feiert, mit oder ohne Alice Weidel, spielt an diesem Abend – in Sichtweite auf der anderen Seite der Saar – im Staatstheater, einst von Adolf Hitler persönlich eingeweiht, Klaus Manns „Mephisto“. Die Geschichte eines Opportunisten in der Nazi-Zeit. „Es wird dunkel in Deutschland“, heißt es an einer Stelle im Stück. Willkommenskultur war 2015. Das ist Deutschland im Jahr 2025.