Selbstmord als letzter Ausweg

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In der Finanzkrise sorgen in Griechenland immer wieder Selbsttötungen für Aufsehen. Als Grund wird oft die Verzweiflung genannt. Doch Psychiater warnen: Nicht jeder Suizid ist ein Krisenselbstmord.

Familie und Freunde sind schockiert: Ein Professor für Tourismus wird an einem Sonntagnachmittag im Mai erhängt in seinem Büro in einer kleinen mittelgriechischen Stadt aufgefunden. Einen Brief hinterlässt der 57-Jährige nicht. „Er litt seit Jahren unter Depressionen. Den endgültigen Schlag hat ihm wohl die Tatsache gegeben, dass ein Kiosk, den er gekauft hatte, nicht gut lief und dass er sich immer mehr verschulden musste“, sagt seine Frau. „Hungern mussten wir nicht.“

Für die Boulevardpresse in Griechenland ist zurzeit fast jeder Selbstmord eine Folge der Finanzkrise. Die mediale Darstellung ist oft einfach: Innerhalb von drei Jahren haben viele fast 30 Prozent ihres Einkommens verloren. Sensible Menschen begehen da schnell Selbstmord. So stellt die Presse die Situation dar.

Ursachen nicht klar definiert

Psychologen und Psychiater machen es sich nicht so leicht. „Die Ursachen sind nicht immer klar definierbar. Man muss seriös bleiben und längere Zeit analysieren“ sagt der Chef der Organisation Klimaka, Kyriakos Katsadoros. Seine Stelle, die unter der Schirmherrschaft des Gesundheitsministeriums steht, hilft seit fast zwölf Jahren Menschen, die sich das Leben nehmen wollen. Ihre Hotline 1018 ist im ganzen Land im Zusammenhang mit der Abwendung von Selbstmorden bekannt.

Einige Suizid-Fälle der jüngeren Zeit waren spektakulär. Ein junger Mann sprang von der Mauer der Akropolis, ein 60-Jähriger vom Balkon seiner Wohnung, als Gerichtsvollzieher ihn zwingen wollten, auszuziehen, weil er die Miete seit Monaten nicht bezahlt hatte.

Selbstmord auf dem Syntagmaplatz

Ein anderer Fall führte im April sogar zu Ausschreitungen im Zentrum Athens. Dutzende aufgebrachte Demonstranten, unter ihnen auch Vermummte, warfen Steine und Brandflaschen auf die Polizei. Die Beamten setzten Tränengas und Schlagstöcke ein. Vorangegangen war der Selbstmord eines 77-Jährigen, der sich auf dem Syntagmaplatz vor dem Parlament erschoss. „Ich ‚gehe‘, bevor ich meinem Kind zur Last falle und im Müll suchen muss“, hieß es in einem Brief, den er hinterließ. Der Rentner war Apotheker und hatte eine relativ gute Rente.

Genau darin liegt der Faktor „Belastung durch andere Gründe“, sagen Psychiater immer wieder. „Viele sind schon vorher belastet und verzweifelt. Wenn dann noch die Finanzkrise dazukommt und die Menschen rund um einen leiden und die Gesellschaft scheint sich aufzulösen und andere begehen Selbstmord, dann kann ein Kranker als eine Art ‚Trittbrettfahrer‘ agieren und sich womöglich schneller umbringen“, sagt der Arzt Giorgos Tagaris.

Zu beobachten sei, dass in vielen Fällen nicht diejenigen Selbstmord begehen, die ganz unten auf der Einkommensskala stehen. Eher seien es diejenigen, die sich bislang vieles leisten konnten und jetzt ein bescheideneres Leben führen müssten, sagt der Arzt.

15 Prozent mehr Selbstmordfälle

„Wir haben seit 2009, seit dem Ausbruch der Krise in Griechenland, jedes Jahr etwa 15 Prozent mehr Selbstmorde“, sagt Psychiater Katsadoros. „Wir haben jetzt etwa 360 Fälle im Jahr.“ Hinter diesen Zahlen verbergen sich etwa zehnmal so viele Versuche, sich das Leben zu nehmen. Viele Familien – und da mache auch die Polizei mit – versuchten den Selbstmord zu verheimlichen – aus Scham oder aus finanziellen Gründen. Griechenland bleibe jedoch im unteren Feld der Länder mit den meisten Selbstmorden in Europa, sagt Katsadoros.

Warum das so ist, das begründen griechische Psychoanalytiker immer wieder wie folgt: „Das schöne Klima, das enge Verhältnis zur Familie und die offene, kontaktfreudige Gesellschaft haben uns bislang vor Schlimmerem bewahrt.“