Europas Männer auf der Überholspur

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In der EU leben zwölf Millionen Frauen mehr als Männer. In vielen Ländern des Kontinents holt das männliche Geschlecht auf. Zuletzt hat sich das seit Jahrhunderten vorherrschende Zahlenverhältnis in Schweden umgekehrt.

Der Wendepunkt kam im März vergangenen Jahres: Zum ersten Mal seit Jahrhunderten gibt es in Schweden mehr Männer als Frauen. Seitdem spekulieren Experten darüber, was das für Folgen für die Gesellschaft haben könnte. „Das ist ein recht neues Phänomen für Europa“, sagt der Demograf Francesco Billari von der Universität Oxford, der als Präsident der Europäischen Vereinigung für Bevölkerungsstudien vorsteht.

Im Westen sind Frauen historisch in fast allen Ländern in der Mehrzahl. Obwohl bei der Geburt auf 100 Mädchen etwa 105 Jungen kommen, hat sich die durchschnittlich längere Lebenszeit der Europäerinnen gegenüber ihren männlichen Landsleuten deutlich auf die Statistik ausgewirkt. Ein Aufholen der Männer in der Lebenserwartung und die Migration lassen aber durchgehend Verschiebungen erwarten.

In Norwegen überholten die Männer die Frauen bereits im Jahr 2011, vier Jahre vor Schweden. In Dänemark und in der Schweiz sind sie kurz vor dem Gleichstand. In Deutschland, das nach den beiden Weltkriegen einen gravierenden Männermangel auswies, gibt es inzwischen 96 Männer auf 100 Frauen – 1960 lag die Zahl noch bei 87.

Zwölf Millionen mehr Frauen als Männer

Insgesamt lebten 2015 in der EU mit ihren gut 500 Millionen Einwohnern zwölf Millionen mehr Frauen als Männer, wie aus den Zahlen der europäischen Statistikbehörde Eurostat hervorgeht. Die Lücke werde in den kommenden Jahrzehnten „vor allem wegen des abnehmenden Unterschieds in der Lebenserwartung“ geringer, sagt Eurostat-Sprecherin Baiba Grandovska. Bis zum Jahr 2080 wird mit einem Frauenüberschuss von nur noch einer Million gerechnet.

In den meisten einzelnen europäischen Ländern dürften die Frauen einer AP-Analyse zufolge noch über einige Jahrzehnte zahlenmäßig die Nase vorn haben. In Großbritannien beispielsweise, das derzeit ein ähnliches Zahlenverhältnis wie Deutschland meldet, sagen die Statistiker voraus, dass die Männer die Frauen erst 2050 überholten.

Das sind allerdings Prognosen mit Fragezeichen: Ähnlich kalkulierten die schwedischen Statistiker noch im Jahr 2003. Damals erklärten sie, dass ein männlicher Bevölkerungsüberhang nicht vor 2050 verzeichnet werde. 2006 verlegten sie den Zeitpunkt um zehn Jahre nach vorne. Sie konnten ihre Berechnungen kaum aktualisieren, bevor sie von der Wirklichkeit eingeholt wurden.

Annäherung der Lebenserwartung und Ankunft Zehntausender Flüchtlinge

Vor allem die Annäherung in der Lebenserwartung gab den Männerzahlen laut Behördenangaben Aufschub, aber auch die Ankunft Zehntausender junger männlicher Flüchtlinge ohne Familie spielte eine große Rolle. Entsprechend ist derzeit der Überhang in der Gruppe der 15- bis 19-Jährigen am höchsten.

Seit 1749 wurde in dem skandinavischen Land erfasst, wie sich die Bevölkerung nach Geschlechtern zusammensetzt. Und immer waren die Frauen vorne – eben bis zum vergangenen Jahr. Da gab es plötzlich 277 mehr Männer. Seitdem haben sie ihren Vorsprung auf mehr als 12 000 ausgebaut. Bei einer Bevölkerung von rund zehn Millionen ist das noch nicht viel. Aber es sei „nicht unplausibel“, in der Zukunft einen großen Männerüberschuss zu erwarten, meint Bevölkerungsexperte Tomas Johansson von der nationalen Statistikbehörde SCB.

Wie sich das auf die Gesellschaft auswirkt, darüber gehen die Ansichten auseinander. Tomas Sobotka am Institut für Demografie in Wien erklärt, dass ein Männerüberhang theoretisch zwar die Auswahl für Frauen vergrößert und sie damit wählerischer werden könnten. Doch sie könnten ebenso stärker unter Druck gesetzt werden von frustrierten Männern auf Partnersuche.

Sorge um die sozialen Errungenschaften

Valerie Hudson von der A&M-Universität in Texas sieht in der Entwicklung Grund zur Sorge um die sozialen Errungenschaften. Die Direktorin eines Programms zu Frauen, Frieden und Sicherheit verweist auf ihre Forschungen aus China und Indien, die den dortigen deutlichen Männerüberschuss mit mehr Gewalt gegen Frauen und höherer Kriminalitätsrate in Verbindung bringt.

Die demografischen Veränderungen in Schweden gehörten zu «den dramatischsten über so einen kurzen Zeitraum, die ich je gesehen habe», sagt Hudson. Es sei ironisch, dass ein Land, das als Vorreiter der Frauenrechte gelte, dem so wenig Bedeutung beimesse. «Denken die Leute nicht darüber nach, ob dies untergraben könnte, was die schwedischen Frauen in den vergangenen 150 Jahren erreicht haben?»

«Quatsch», sagt dazu die Forscherin Jacqui True von der Monash-Universität im australischen Melbourne. Die Anzahl der Männer sei nicht so sehr ausschlaggebend, sondern vielmehr wie die Gesellschaft geformt sei – etwa mit Blick auf Hierarchien, die Männer bevorzugen.

Dem stimmt auch Annick Wibben von der Universität San Francisco zu. Die Gleichheit der Geschlechter sei so tief in der schwedischen Gesellschaft verwurzelt, dass Vergleiche mit China oder Indien wenig Aussagekraft hätten. Sie ist überzeugt: „Die Art, wie Männlichkeit in verschiedenen Gesellschaften funktioniert, muss dabei mit betrachtet werden.“