Verlorene Demokratie?

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Wir stehen am Rand des politischen Abgrunds!

„Bevor die Massenführer die Macht in die Hände bekommen, die Wirklichkeit ihren Lügen anzugleichen, zeichnet sich ihre Propaganda durch eine bemerkenswerte Verachtung für Tatsachen überhaupt aus. „ Hannah Arendt – aus: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955)

Hannah Arendt. Die studierte Philosophin, die als Agnostikerin die Linie eines dem Leben nahen Existentialismus vertrat, war Professorin an den US-amerikanischen Universitäten Princeton, Harvard, Chicago und New York, und lebte von 1906 bis 1975. Als politisch engagierte Denkerin gab sie dem Schock über die Massenvernichtung von jüdischen Mitbürgern im Dritten Reich Hitlers Ausdruck. Der Holocaust – ein nun ob aktueller Gedenktage wieder historisches Thema, das egal wie niemals vergessen werden darf.

Hannah Arendt hat in dem einführenden Zitat aus ihrem oben erwähnten Hauptwerk eine durchaus brisante Feststellung in die politische Aktualität eingebracht. Bei näherer Betrachtung leider nachhaltig – wie der kritische Bürger in diesen Zeilen festzustellen sich erlaubt. Sie sah den Anfang des Antisemitismus, meint der Judenfeindlichkeit, schon mit dem Beginn der Nationalstaaten und mit der Expansion des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die Abneigung gegen die Juden verstärkte sich ihrer Ansicht nach durch die zunehmende – und heutzutage durchaus politisch generell gesehene – Undurchsichtigkeit des politischen Handelns und die unklaren Beziehungen zwischen der Regierung, dem Parlament und dem freien Kapital.

Sie wollte als Überlebende des Holocaust und des Krieges mit vielen Juden die Ausgesetztheit und Heimatlosigkeit zum Ausdruck bringen und nicht vorschnellen Trost in der Religion suchen. Sie sah im guten Willen und Handeln die Stimme der zum Leben willigen Menschheit, im bösen Willen und Handeln die Zerbrechlichkeit menschlicher Gemeinschaft.

Und daran direkt im Kontext unseres Themas der „verlorenen Demokratie“ anknüpfend, hat man leider den Eindruck, dass ebendiese bereits erwähnten und eines demokratischen Staates absolut unwürdigen „Unklarheiten“ dem modernen, dauerabgelenkten und gestressten Zeitgenossen in zunehmender Zahl entgehen. Oder eben doch nicht. Dass diese (neoliberalen) Machenschaften hinter seinem oder ihrem Rücken, die viele von uns also nicht einmal bemerken, jedoch trotzdem gelegentlich zu medienwirksamem Aufschrei der Empörten führen, dürfte bekannt sein – siehe G20-Gipfel in Hamburg, mit entsprechenden Konsequenzen. Und ob der Form des Protestes, die für weltweite Schlagzeilen sorgte, ein Reinfall der besonderen Art, der den Reichen dieser Welt darüber hinaus auch noch entgegenkam …

Ein Desaster, ein katastrophaler Zusammenbruch für eine Stadt, die sich mit dem Gipfel der Mächtigen dieser Welt liberal, konstruktiv und friedlich präsentieren wollte. Stattdessen eskalierte die Gewalt, die bestimmt niemand der intelligenten Demonstranten wollte, engagierte Weltbürger, die mit Sicherheit die Mehrheit der protestierenden und zukunftsbesorgten Menschen darstellten, die jedoch in diesem Chaos der Gewalttätigkeit diverser Art untergingen. Eine Massengewalt, die sich auf den Straßen Hamburgs abspielte, die Dimensionen wie nie zuvor in der Geschichte dieser stets heftig umstrittenen Gipfel annahm. Szenen einer Gewalt, die der randalierende Mob, Chaoten und gewalttätige Frustrierte, die von der Gelegenheit profitierten und die diese der Welt leider boten, Szenen des Untergangs, die eine tief erschütterte Stadt hinterließen. Fern der großen Bühne mit der Elbphilharmonie im Hintergrund, im Vordergrund die Staatschefs – eines applaudierenden, privilegierten Publikums drinnen, ein paar Kilometer weiter der visierte Mob, der tobend manifestierte.

Negative Mechanismen als Konsequenz einer immer mehr verlorenen oder „unterwegs“ verloren gegangenen Demokratie? Die im Endeffekt wer zu verschulden hat? Eine egozentrische, dem Kapital in neoliberaler Obedienz blind hörige, sozial und menschlich inkompetente, korrupte Politikerkaste? Die wer gewählt hat? Hat die Politik der Wirtschaft denn wirklich gar nichts mehr entgegenzusetzen? Mächtige dieser Erde, die tun und lassen können, was sie wollen? Und denen egal wie völlig gleichgültig ist, wer „unter ihnen“ regiert? Oder doch eine verlorene Demokratie, die wir vielleicht eher selbst und ob unserer zunehmenden Gleichgültigkeit, unserer politischen Bequemlichkeit, unseres blinden, naiven Vertrauens in jene, die wir gewählt haben, oder auch als Folge fataler Politikverdrossenheit selbst verschuldet haben?

Die es (vermeintlichen) „Politikern“ der Klasse eines Donald Trump erlauben konnten, ihre billigen, pur opportunistischen Machtgelüste, die sich darüber hinaus auch noch bequem mit privaten, meint im Falle Trump, geschäftlichen Interessen verbinden lassen, qua Amtsübernahme zu befriedigen? Und denen die Demokratie, die diese Macht- und Geldmenschen im gesunden, politischen Vokabular – wie wir Bürger sie verstehen, und das dieser Mann garantiert nicht beherrscht – völlig egal ist, alarmierende politische Zustände, die leider bittere Realität sind, und die bis dato niemand sich in einer gesunden Demokratie, nach westlichem Verständnis, jemals vorstellen konnte? Die verlorene Demokratie, die trotzdem leider auch zu vielen von uns völlig gleichgültig zu sein scheint – jedenfalls solange es uns – noch – „gut“ geht … Denn danach, wenn es wirklich zu spät ist, wird es garantiert ein böses Erwachen geben!

Szenenwechsel. Doch zum Thema wahrlich passend. Frank-Walter Steinmeier. Anlässlich seiner Antrittsrede, die in diversen Kommentaren jenseits der Mosel durchaus auch kritisch kommentiert wurde – wobei betont wird, dass diese Auftritte zu jenem besonderen Anlass eher selten Glanzlichter der politischen Rhetorik darzustellen pflegen – beschäftigte sich der neue Bundespräsident engagiert mit der Demokratie. Der Mann neigt doch eher zur ausgleichenden Gelassenheit und zur fortschrittlichen, sozialdemokratischen Diplomatie, wie der bescheidene Kommentator diesen durchaus kompetenten Politiker bezeichnen würde.

Doch von Frank- Walter Steinmeiers bekannten Gelassenheit ausnahmsweise mal keine Spur. Sein zur Schau getragenes Selbstbewusstsein hatte eher etwas vom Pfeifen im Walde. Steinmeier schaltete als neuer Bundespräsident bei seiner Antrittsrede eher in den rhetorischen Krisenmodus. „Wir müssen über die Demokratie nicht nur reden – wir müssen wieder lernen, für sie zu streiten“, mahnte der neue Bundespräsident und warnte vor einer „schleichenden Erosion“ der Demokratie durch Gleichgültigkeit und Überdruss. Ferner mahnte Steinmeier, dass wir in Zeiten leben, in denen „alte Gewissheiten“ verschwunden sind und Demokratie „weder selbstverständlich noch mit Ewigkeitsgarantie ausgestattet ist“.

Das klingt vielleicht banal und ist es wohl auch – zumindest rein terminologisch inhaltlich betrachtet. Es zeigt jedoch, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Was umso bemerkenswerter ist, als sich im Grunde ja gar nichts geändert hat, wie viele feststellen würden. Doch dass dem garantiert eben nicht so ist, entgeht so manchen Zeitgenossen, die in ihrem Alltag, der sie in vielerlei Hinsicht so beschäftigt, dass ihnen leider vieles einfach entgeht.

Und genau darin liegt die (beabsichtigte?) Gefahr – eben die Gefahr der verloren gehenden Demokratie! Die wen wiederum bestens arrangiert? Eine Gefahr, die viele von uns nicht einmal mitbekommen, einen Schritt am Rande des politischen Abgrundes! Dem wir allerdings riskieren, morgen schon einen fatalen Schritt weiter gekommen zu sein … Falls wir nicht doch erwachen sollten, was durchaus und im Sinne kommender Generationen sehr zu empfehlen wäre.

Ach ja, in der Hamburger Elbphilharmonie wurde übrigens Beethoven gegeben. Genauer: seine „Ode an die Freude“. Sehr schön! Alle Menschen werden Brüder? Dann dürfen wir die Demokratie jedenfalls niemals verloren geben …

Frank Bertemes