Über Rache, Schuld und die unmögliche Sühne

Über Rache, Schuld und die unmögliche Sühne

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Nachdem Yorgos Lanthimos mit „The Lobster“ eine verstörende Dystopie über Beziehungen inszeniert hat, kehrt der Regisseur nun mit einer lose in der griechischen Mythologie verankerten Tragödie um Rache, Schuld und Schicksal zurück.

Nachdem Yorgos Lanthimos mit „The Lobster“ eine verstörende Dystopie über Beziehungen inszeniert hat, kehrt der Regisseur nun mit einer lose in der griechischen Mythologie verankerten Tragödie um Rache, Schuld und Schicksal zurück. Ein erschütternder Film, der einen aufgrund seiner wunderbaren Ästhetik genussvoll wahnsinnig macht.

Ich warne sofort: Ganz ohne Spoiler wird und kann eine Besprechung des neuen Films von Yorgos Lanthimos kaum auskommen. Wer den Film also genießen möchte, ohne dass ihm hier einige Plotdetails verraten werden, soll sich diesen Artikel aufbewahren, sich das Werk reinziehen und dann später weiterlesen.

Seid ihr soweit? Gut. Steven Murphy, gespielt von einem Colin Farrell mit sehr dichtem Bart, ist ein Chirurg, dessen Alltag zwischen Klinik und Familie vielleicht etwas bieder wirkt, jedoch auf ersten Blick den standardisierten westlichen Zufriedenheitskriterien entspricht: Seine Arbeitskollegen schätzen ihn, die beiden Kids (Bob und Kim) sind gesund und seine Ehefrau Anna (Nicole Murphy) scheinen seine sexuellen Vorlieben für regungslose Körper kaum zu stören, wie wir relativ früh im Laufe eines Rollenspiels sehen können.

Dieser doch sehr routinierte Alltag wird durch das Auftauchen von Barry Keoghans Martin aufgebrochen. Anfangs wirkt die Freundschaft zwischen dem 16-jährigen Martin und Steven zwar sehr wohl verstörend, dies ist aber hauptsächlich dadurch bedingt, dass man nicht weiß, was diese beiden Männer unterschiedlichen Alters verbindet und wieso Steven dem Jungen z.B. eine teure Armbanduhr schenkt.

Steven’s Choice

Schnell erfährt man allerdings, dass Martins Vater ein Patient von Steven war, dieser auf dem Operationstisch verstorben ist und Martin – hier kippt der Film ins Übernatürliche – Rache an Steven, den er für den Tod seines Vaters schuldig hält, ausüben möchte. Als Stevens Sohn nämlich plötzlich (Achtung, hier kommt der Spoiler-Teil) seine Beine nicht mehr spürt, entblößt sich Martins Racheplan: Steven muss, um für seine Schuld aufzukommen, eines seiner Familienmitglieder opfern. Tut er das nicht, werden sein Sohn, seine Tochter und seine Ehefrau an einer medizinisch unerklärbaren Krankheit dahinscheiden.

Ganz wie in „Calvary“ (von John Michael McDonagh), der Film, der damit anfängt, dass ein Unbekannter im Beichtstuhl den Tod eines katholischen Pfarrers verlangt, um die pädophilen Verbrechen, welche die Kirche an ihm begangen hat, wettzumachen, fordert Martin eine fast schon symbolische Vergeltung. Und ganz wie in „Sophie’s Choice“ von William Styron wird hier vom Familienvater eine unmögliche Handlung verlangt, die sowohl unumgänglich als auch unverzeihlich ist.

Schuld und Zufälligkeit

Dabei geht es im Film eigentlich nicht wirklich darum, ob Farrells Figur tatsächlich schuldig ist. Weil dieser Film durch und durch vom griechischen kulturellen Erbe durchdrungen (u.a. in seinen intertextuellen Referenzen an Iphigenie) ist, thematisiert Lanthimos die unmögliche Sühne für eine tragische Tat.

Bei den alten Griechen griff man damals auf das Reinigungsritual des Pharmakos’ zurück: Das menschliche Opfer, das die Stadt von einer Seuche heilen sollte, wurde oft zufällig ausgewählt, die Idee der Schuld war hier von der Kausalität getrennt. Dies scheint auch in „The Killing of a Sacred Deer“ durch: Steven mag schuldig sein – er hatte zum Zeitpunkt des Todes von Martins Vater offenbar eine Vorliebe für (griechischen?) Wein –, vielleicht aber wird er einfach, fast wie bei Kafka, willkürlich ausgewählt, weil die Buße genau so arbiträr wie der Tod von Martins Vater ist.

Entfremdungseffekte

„The Killing of a Sacred Deer“ funktioniert nicht nur aufgrund dieses mythologisch-allegorischen Vexierspiels über Schuld, Vorherbestimmung und der unmöglichen Aufarbeitung tragischer Vorkommnisse: Der Film lebt auch von seinen Schauspielern und der formalen und ästhetischen Umsetzung seines Plots. Auffallend ist, wie gut Farrell und Kidman immer wieder sind, sobald man sie abseits ästhetisch billiger und finanziell aufwendiger Blockbuster auf der Leinwand sieht. Die Entdeckung des Films dürfte aber der verstörende, bedrohliche Barry Keoghan sein, dessen teuflische Figur äußerst nuanciert daherkommt.

Die Entfremdung von Stevens Alltag wird im Film auch formal durch den unnatürlichen Einsatz von Kamerazooms, die manchmal sehr aufdringlich wirkende extradiegetische Musik und Erzählmethoden, die mit narrativen Brüchen arbeitet, dargestellt.

Formale Eleganz

So setzt Lanthimos in einer sehr bedrohlichen Schlüsselszene auf eine Parallelmontage, im Laufe derer ein Flashback und eine Szene der Gegenwart sehr effizient ineinanderlaufen (mehr verraten wir hier nicht). Anderswo spielt der Regisseur mit der Chronologie, indem Dialoge bereits einsetzen, während die Bilder noch an einer Szene haften, die eine vorherige Situation darstellen.

Des Weiteren kommunizieren die Figuren (speziell Colin Farrell) miteinander, als kämen sie aus einer fiktionalen Schauspielerschule für David-LynchFilme: Die Gespräche wirken absurd, theatralisch und versetzt, sodass die mimetischen Prämissen des Films immer mehr in den Hintergrund geraten und der Film und seine Anleihen an die griechische Mythologie immer befremdender wirken. Dieser theatralische Einsatz steht dem Film im Endeffekt sehr gut, da er Lanthimos, wie schon in „The Lobster“, erlaubt, zwischen tragischen und humorvollen Momenten zu pendeln.

Denn das wahrhaft Absurde liegt in dieser Form von Humor, die einen manchmal über das wahrhaft Furchtbare lachen lässt, ganz als wolle Lanthimos uns zu verstehen geben, dass wir unser menschliches Schicksal doch eigentlich selbst gar nicht so ernst nehmen, als wir es meist glauben und uns so eine humorvolle Form von Stoizismus lehren.