„Nicht einengen lassen“

„Nicht einengen lassen“
(Tageblatt/Alain Rischard)

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Für seinen Gedichtband „Abrasch“ wird der Luxemburger Autor Nico Helminger am Dienstagabend im „Centre national de littérature“ mit dem „Prix Servais 2014“ ausgezeichnet.

Die Lyrik ist jedoch nur ein Teil der literarischen Arbeit von Nico Helminger und das soll sie auch bleiben. „Auf die Gefahr hin, als Amateur zu gelten, will ich mich nicht einengen lassen“, sagt Helminger im Gespräch über die Anerkennung.

Die Glückwünsche, die Nico Helminger heute Abend im Servais-Haus entgehennehmen wird, werden nicht die ersten sein. Als sein Bruder Guy Helminger vor zwölf Jahren mit dem gleichen Preis ausgezeichnet wurde, schüttelten einige Gäste ihm begeistert die Hand.

Eigentlich hat Nico Helminger – der „Mann mit dem Hut“ – kein Problem damit, mit seinem zehn Jahre jüngeren Bruder verwechselt zu werden. Allein wenn erklärte Literaturliebhaber die beiden Brüder verwechseln, kommen Zweifel auf. Sie stehen in ihrem literarischen Doppelgang nicht allein. Die Goncourt wurden auch manchmal verwechselt. „Bei Thomas und Heinrich Mann ist sie schwerer nachvollziehbar“, sinniert Helminger und meint, er habe mit seinem Bruder schon viel darüber gelacht – wenn Guy vorgeworfen wurde, bei der Fernsehsendung seinen Hut nicht zu tragen.

Verknüpfungen

„Abrasch“, der Titel des mit dem Literaturpreis ausgezeichneten Gedichtbands, kommt ursprünglich aus der Teppichindustrie und bezeichnet die leichten Farbunterschiede, die in der Teppichknüpferei entstehen, wenn die Wolle zu Ende geht und mit einem neuen Knäuel verknüpft wird. Dieses Problem stellte sich vor allem in den Zeiten, wo ausschließlich mit Naturstoffen gefärbte Wolle verwendet wurde.

Allerdings ist ein schöner „Abrasch“ häufig auch ein Qualitätsmerkmal. Er steht für Originalität und offeriert zugleich ein dekoratives Schattenspiel der Farben.

Genau diesen Überlegungen haben die Juroren des „Prix Servais“ Rechnung getragen. „Die Jury prämiert damit einen in Zyklen von unterschiedlichem Umfang angelegten Lyrikband, in welchem eine Vielzahl von Motiven und Themen sowie Referenzen auf die Literatur und die Naturwissenschaften zu einem poetischen Gebilde von großer Komplexität verknüpft und variiert werden“, heißt es in der Begründung des Preises. „Die Texte sind einer Tradition des peripatetischen und nomadischen Schreibens verpflichtet, bei dem mit den äußeren zugleich innere Landschaften erwandert werden und die in Nico Helmingers Werk eine unverkennbar eigene Prägung besitzt.

Die deutsch-, französisch- und luxemburgischsprachigen Gedichte des Bandes sind durch einen markanten Duktus und außergewöhnliche Sprachkreativität gekennzeichnet.“
„Abweichungen von den Normen“, sagt Nico Helminger im Gespräch über seine literarische Arbeit, die er in unterschiedlichen Varianten und Dimensionen aufgliedert. „Diese Verrückungen können bis zur Verrücktheit ausufern“, meint er.

„Abrasch“ sei deshalb nichts anderes als eine weitere Variante der Abweichungen vom Grundthema, die das Leben immer wieder mit sich bringe.
Eines der fünf Kapitel des Gedichtbandes „Abrasch“ beschäftigt sich mit den „Jardins de Wiltz“, die aus der Arbeit von und mit behinderten oder kranken Menschen entstanden sind und bei denen der Autor einen Workshop mit geisteskranken Menschen geleitet hat. „Die Teilnehmer haben mich fasziniert. Nicht zuletzt, weil es gewisse Parallelen mit der schriftstellerischen Arbeit gibt. Wer von Kreation spricht, spricht notgedrungen auch von Abweichungen – und die können sehr weit gehen“, sinniert der neue Literaturpreisträger und fordert das Recht auf Abweichungen, selbst wenn sie bis zum Irrtum gehen. Das sei eben das Risiko der Kreativität.

Genau aus diesem Grund will sich Nico Helminger auch nicht auf eine Sprache festlegen. Der größte Teil seiner Werke ist zwar auf Deutsch geschrieben, aber das Luxemburgische hat ebenfalls einen gewissen Stellenwert. „Ich beanspruche die Mehrsprachigkeit. In meinen Gedichten genau wie im Theater“, sagt Helminger und wehrt sich gegen die vorgefasste Meinung, ein Autor könne nur in seiner Muttersprache gut schreiben.

In einen Atemzug nennt er den rumänisch-französischen Autor Eugène Ionesco, den russisch-amerikanischen Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky und Elias Canetti, der 1981 den Literatur-Nobelpreis für sein deutschsprachiges Werk bekam, obwohl Deutsch für den in Bulgarien geborenen und zeitweilig in England lebenden Schriftsteller nur die vierte Sprache war. „Man muss eine Sprache nicht ‚beherrschen‘“, sagt Helminger. Jeder Autor dürfe seine eigene Sprache entwickeln, mit seinem eigenen Stil und seinen persönlichen Macken. „In der Literatur müssen wir aufnehmen, was von außen kommt“, fordert Helminger. Und das seien in seinem Fall auch interkulturelle Elemente.

Der 1953 in Differdingen geborene neue Servais-Preisträger hat ein Nomadenleben hinter sich. Nach dem Abitur am Escher „Jongelycée“ im Jahr 1972 studierte er Germanistik, Romanistik und Theaterwissenschaft in Saarbrücken, Wien und Berlin. 1980 zog er nach Paris, wo er kurze Zeit als Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte tätig war. „Das war nicht mein großes Glück“, sagt er heute über diese Zeit, in der er jedoch bereits erste Werke in deutscher Sprache veröffentlichte. Deshalb ging er 1984 als freier Autor zuerst nach München, dann nach Heidelberg und schließlich wieder nach Paris. 1999 kam er nach Luxemburg zurück, wo er seither als freier Schriftsteller in Esch/Alzette lebt. Seine intellektuelle Freiheit findet er heute in ausgedehnten Wanderungen, „wobei ich, wie in meinen Gedichten, genau auf Rhythmus und Atmung achte“.

Auf Reisen

Die europäische Dimension kommt dennoch nicht zu kurz. „Ich bin viel unterwegs“, sagt Helminger, der erst am Wochenende aus Wiesbaden zurückgekehrt ist, wo er an der Theaterbiennale über „Neue Stücke aus Europa“ teilgenommen hat. Es ist das weltweit größte und wichtigste Festival zeitgenössischer Dramatik. Alle zwei Jahre werden auf diesem internationalen Umschlagplatz theatraler Ideen und Ästhetiken neue Stücke, Autoren und Regisseure aus 41 Ländern Europas entdeckt, präsentiert und miteinander in Beziehung gesetzt.
„Ein sehr wichtiges Forum“, sagt Helminger, der in seiner Eigenschaft als technischer Leiter des luxemburgischen „Printemps des poètes“ im Mai auch zum französischen „Marché de la poésie“ nach Paris gereist ist.
Das Thema der Wiesbadener Biennale war dieses Jahr das „Rebellische Theater“ und entspricht in diesem Sinn auch Nico Helmingers Werk. Er sei nach wie vor engagiert, präzisiert der Autor.

Allerdings sei die Literatur heute anders als in seinen literarischen Anfangsjahren, unmittelbar nach 1968, in denen man sich gesellschaftspolitisch mitunter recht anmaßend positioniert habe. „Heute weiß man besser, über was man schreibt“, sagt Helminger. Seine kritische Haltung habe er bewahrt, genau wie auch die Freude am Schreiben.