Der Hexenmeister

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Nach einer dreitägigen „Warm-Up“-Session in Berlin war die luxemburgische Philharmonie der erste Halt einer Tournee, die Nils Frahms neues Album vorstellen soll. Dabei wurde „All Melody“ gerade mal ein paar Stunden vor Konzertbeginn veröffentlicht. Beides – der Liveauftrit und die neue Platte – sind atemberaubend schön.

Bei Caspar David Friedrich war es die Naturgewalt, die den einsamen Wanderer ins Erstaunen versetzte und den Künstler zur Darstellung des Erhabenen verleitete, heute sind es ein paar einsame Musiker, die von der Gewalt der von Menschenhand gebauten Maschinen erzählen. Nils Frahm teilt mit Tim Hecker eine Vorliebe für das Aufarbeiten organischer Klänge inmitten elektronischer Klanggerüste, die wie Kathedralen in einer gottlosen Zeit wirken – ihre Musik spiegelt die Leere, das Mystische, das Erhabene und eine enorme Liebe zum Detail wider.

Um dem gerecht zu werden, hat Frahm für seine „All Melody“-Tournee ein imposantes Gerüst an Instrumenten aufgestellt, das sich auf der Bühne der Philharmonie in zwei getrennte „Räume“ aufgliedert. Im linken Bereich stehen Klavier, Orgel und eine dieser Kisten, die für den Laien wegen der zahlreichen Knöpfe, Schalter und Hebel eher an das Cockpit eines Flugzeugs als an ein Musikinstrument erinnern. Darunter befindet sich eine Reihe von Schubläden, die irgendwie wirken, als hätte man sie aus einer alten Apotheke zweckentfremdet – und tatsächlich hat Frahm alle möglichen Heilmittel gegen die Melancholie des Alltags parat, ganz gleich, ob er nun seine vielschichtigen elektronischen Werke („All Melody“), kurze virtuose Intermezzi („Hammers„) oder aber auch melancholische Balladen („Familiar„) zum Besten gibt.

Im zweiten „Raum“ stehen dann zwei gigantische Mischpulte, ein Flügel, ein Fender Rhodes und eine Vielzahl an Keyboards und Effektgeräten. Im Laufe des Sets hüpft Frahm von einer der musikalischen Steuerzentralen zur anderen und kommentiert mit charmanter Selbstlosigkeit das Geschehen, wünscht sich, während er an den Reglern dreht, dosiert und die Zutaten für den nächsten Song vorbereitet, dass das Publikum etwas länger applaudieren würde, um die peinlichen Stillen zu überbrücken, bevor er präzisiert, er wäre manchmal doch arg vergesslich, würde manchmal etwas vergessen – und dann klinge das Ganze teilweise „really bad“.

Digitale Organik

Für Nils-Frahm-Fans aus Luxemburg und Umgebung hat es sich am Freitag wohl wie Weihnachten und Ostern zugleich angefühlt (angenommen, man empfindet weder Weihnachten noch Ostern als neoliberale Abzocke oder lästige Familienpflicht): Am frühen Morgen war das neue Album „All Melody“ auf den üblichen Streaming-Plattformen verfügbar, einige Stunden später stand der talentierte Musiker auch schon inmitten der Instrumente, Mischpulte und Maschinen und legte mit einer ersten, 18-minütigen Sequenz los, die aus dem Intro „The Whole Universe Wants to Be Touched“ und „Sunson“ vom neuen Album bestand – und auf Anhieb überzeugte.

Orgel, Panflöten, Beats, Klavierklänge – die einzelnen Parts und Instrumente stehlen sich hier nicht die Show, sondern türmen sich nach und nach zu einem klanglichen Meisterwerk auf, das zu keinem Zeitpunkt überladen ist, da Frahm durch seine Erfahrungen im Bereich des Elektros die Liebe zum Minimalismus mit dem manchmal Pompösen der Klassik ausbalanciert.

Inmitten der Klangarchitekturen, die durch den Bühnenaufbau verbildlicht werden, steht ein zappelnder Frahm: Mit dem rechten Fuß aktiviert er ein Effektgerät, mit dem linken die Pedale des Fender Rhodes, auf dem er zeitgleich mit der linken Hand spielt, während er mit der rechten am Mischpult Knöpfe malträtiert – das ist Fitness für Fortgeschrittene, der Perfektionist und Virtuose Nils Frahm spielt mit koitalen Bewegungen gegen die Nichtigkeit der Dinge, gegen die verdammte Sinnlosigkeit der Welt, die wir uns geschaffen haben.

Mit der zweiten Auskopplung aus dem noch frischen Album „My Friend the Forest“ schlägt Frahm ruhigere Töne an – bei der fast jazzigen Ballade hört man jeden Anschlag, es herrscht eine bedächtige, fast religiöse Stille im Raum, bis der Track dann in „Familiar“ übergeht, das Fans von Frahm wohl bekannt sein dürfte und nach wie vor an Yann Tiersens Amélie-Soundtrack erinnert. Diese Reminiszenz kommt beim Musterschüler Frahm beim Encore noch mal kurz zum Vorschein, hier haben wir es aber eher mit Tiersen für Experten zu tun, die naive Amélie weicht einer erwachseneren, reiferen Version ihrer selbst.

Dazwischen gab’s mit „Hammers“ einen weiteren Beweis dafür, dass Frahm quasi mühelos zwischen (nur scheinbarem) Minimalismus und beeindruckender Virtuosität wechseln kann. Beim fantastischen, titelgebenden „All Melody“ vom neuen Album wären zwei Sachen anzumerken: Ich bin der festen Meinung, dass im allgemeinen Sprachgebrauch inflationär von Gänsehautfeeling gesprochen wird und habe mir geschworen, die Finger von solchen Klischees zu lassen. Wenn „All Melody“ aber sein elektronisches Loop schafft und Frahm dann mit warmen Rhodes-Klängen irgendwie barocke Bach-Klänge mit Jazz-Rhythmik verbindet, um die Zuschauer anschließend langsam in Trance zu versetzen – dann tut das dann doch was mit dir, emotional gesehen, ganz gleich, mit welchen Wörtern man dies nun beschreiben möchte.

Zweitens: Da das Konzert nur Stunden nach der Veröffentlichung vom Album stattgefunden hat, konnte man hier kaum die bereits zigfach genossene Studioversion mit der Liveversion konfrontieren, um den Mehrwert der Live-Session zu messen. Nichtsdestotrotz merkte man, wie viel die Improvisation und Spielfreude zum monumentalen Aspekt dieses Tracks beitrugen.

Bei Nils Frahm klingt die Elektronik organisch und das Organische elektronisch, es geht um das Verschmelzen vom Digitalen und Analogen, die Utopie von Mensch und Maschine zeichnet sich sowohl unheilvoll-melancholisch (in den Klangbildern, die Frahm hervorruft) als auch wunderschön-symbiotisch (in der praktischen Umsetzung).

Abseits der postmodernen Paranoia verschiedener Denker wird hier das Simulakrum zum Original (oder umgekehrt), im Endeffekt bleibt Frahm der wagemutige Zeremonienmeister, der stets eine manische Kontrolle behält – und dem Zuschauer einen unvergesslichen Abend bescherte. Karten für bevorstehende Konzerte in der Umgebung sind größtenteils ausverkauft, in der Laiterie in Straßburg gibt’s aber noch einige. Am Samstag besprechen wir das Album im Detail.

M.P.
1. Februar 2018 - 10.53

Schön, dass sich auch Rezensenten noch begeistern können. Ich war auch sehr begeistert, ja bewegt von dem Auftritt und der Musik.