„Wenn du die Stimme ausmachst, hören wir dir zu“: Welttag der Gehörlosigkeit aus luxemburgischer Perspektive

„Wenn du die Stimme ausmachst, hören wir dir zu“: Welttag der Gehörlosigkeit aus luxemburgischer Perspektive
Marie-Jeanne ist gehörlos. Sie freut sich, dass sich zumindest ein Teil der Barrieren, die sie aus ihrem früheren Leben kannte, in Luxemburg aufgehoben wurden.

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Leben, lieben, leiden – all diese Dinge verbinden wohl viele mit einer gewissen Lautstärke, die sie entweder selbst produzieren oder von anderen wahrnehmen. Aber wie gestaltet sich dies, wenn man gehörlos ist?

Mit 14 war die gehörlose Marie-Jeanne in einen hörenden Jungen verliebt. Als es dann aber weitergehen sollte, war das nicht so einfach. „Die Kommunikation hat nicht funktioniert. Zudem hat er eigentlich nur ans Küssen gedacht. Das war’s dann.“ Ihr sei mit der Zeit klar geworden, dass sie gerne mit einem gehörlosen Jungen zusammen sein möchte. Die heute Mitte-40-Jährige fand einen schwerhörigen Partner und ist mittlerweile Mutter von zwei jungen, hörenden Erwachsenen.

Ob ihre Kinder gehörlos oder hörend zur Welt kommen würden, stellte für sie nicht die wichtigste Frage dar. „Wie für jede andere Mutter auch war für mich vorrangig, dass sie gesund sind“, was sie auch waren. Und wie bei fast jedem Wesen mit eigenem Willen setzen halt spätestens im Jugendalter Diskussionen und Streit ein. Auch wenn sich diesbezüglich viel geändert hat, bedeutet dies bis heute noch für zahlreiche Eltern, dass der eigenen Autorität auch mal mit scharfem Ton, ja gar mit Geschrei Ausdruck verliehen wird. Für Marie-Jeanne kommt das nicht infrage. Sie ist keineswegs stumm und kann sich ihrer Stimme bedienen, hält diese aber für nicht so gut verständlich und sieht ohnehin nicht wirklich ein, wozu das Schreien gut sein soll: „Ich weiß, dass es nichts bringt, die Kinder anzuschreien oder zu schnell auszurasten. Vielmehr muss ich ihnen erklären, was das Problem ist. Die Kinder haben mir schon früh gesagt, dass sie mir nicht zuhören, wenn ich schreie. Laut ihnen gilt: Wenn du die Stimme ausmachst, hören wir dir zu.“

Laut- und Gebärdensprache

Die Kommunikation zwischen Marie-Jeanne und ihrer Familie verläuft demnach über die Lautsprache, aber unter anderem auch mithilfe der Gebärdensprache, die beispielsweise ihre Tochter durch Nachahmung lernte. Bei der Gebärdensprache spielt neben den Händen auch die Mimik eine essenzielle Rolle. Mithilfe dieser kann Marie-Jeanne auch schon mal Wut, Enttäuschung oder eben unbändige Freude zum Ausdruck bringen. Diese Sprache war nicht immer Teil ihres Lebens, erklärt sie: „Ich bin in der hörenden Welt aufgewachsen. Nach der Schule habe ich mit hörenden Nachbarskindern gespielt. Jetzt begreife ich gar nicht mehr, wie ich damals kommuniziert habe, aber vielleicht ging es einfach über das Spiel.“

Die leidenschaftliche Wanderin lief als Jugendliche bei den Pfadfindern als einzige Nicht-Hörende mit. Dieses Alleinstellungsmerkmal in mehreren Lebenssituationen hat sie eigenen Aussagen zufolge nicht vordergründig beschäftigt, so Marie-Jeanne: „Ich habe mir damals keine Gedanken darüber gemacht, ob ich allein oder isoliert bin. Zurück in die Zeit von damals will ich trotzdem nicht. Ich bin glücklich, dass ich jetzt mit vielen Gehörlosen guten Kontakt habe.“ Eine wirkliche Gehörlosen-Community gab es noch nicht, als Marie-Jeanne im Jugendalter war. Den Vater ihrer Kinder lernte sie erst später in Trier kennen und Freundschaften schloss sie, als sie nach Essen sowie Dortmund in eine Gehörlosenschule ging. Das Erlernen der Gebärdensprache habe förmlich wie ein Befreiungsschlag gewirkt, schildert die gehörlose Frau die damalige Situation: „Es bedeutete einen riesigen Fortschritt für mich. Ich war begeistert und es war ein wertvolles Gefühl, allem und allen folgen zu können.“

Dieses Gefühl hat sie in ihrem jungen Leben nicht immer begleitet. Ihr Wunsch war es, Chemielaborantin zu werden. Die Noten waren dafür aber zu schlecht und ihr Lehrer schlug vor, im Druckerei-Wesen zu arbeiten. „Das sei ein sicherer Beruf für die Zukunft, hieß es. Aber die Druckerei, für die ich arbeitete, ist mittlerweile pleite.“ Eigentlich hätte sie eine Berufsschule auf Limpertsberg besuchen sollen, die Schule dort war jedoch nicht auf ihre Bedürfnisse eingestellt. „Inklusion gab’s ja damals noch gar nicht“, sagt Marie-Jeanne. „Die Lehrer meinten, ich solle halt von der Tafel ablesen oder das Buch aufschlagen, aber die Prüfungen habe ich nicht bestanden.“ Marie-Jeanne wollte dann in eine spezialisierte Berufsschule nach Deutschland, dafür kam der Staat aber nicht auf. Ihre Eltern bezahlten alles aus eigener Tasche.

Brücken zwischen zwei Welten

Seitdem hat sich in Luxemburg und auch bei Marie-Jeanne vieles geändert. Sie freut sich, dass zumindest ein Teil der Barrieren, die sie aus ihrem früheren Leben kannte, aufgehoben wurden: „Es wurden kleine Brücken zwischen der hörenden und nicht-hörenden Welt gebaut. Menschen erkennen schneller, dass man gehörlos ist, und können anders darauf reagieren.“ Trotzdem sei sie persönlich gegenüber hörenden Menschen nicht vollständig vertrauensfähig, weil sie sich nie ganz sicher sein könne, ob man eine gute Kommunikationsebene findet. „Daher bin eigentlich eher in der Gehörlosen-Welt unterwegs.“

Marie-Jeanne ist der Zugang zur Kultur wichtig. „Ich liebe Kino“, heißt es von ihr, jedoch fügt sie hinzu: „leider“. Sie teilt diesbezüglich einen Nachteil mit vielen anderen Gehörlosen, die in Luxemburg zur Gehörlosen-Schule gingen. Denn dort lernt man hauptsächlich Deutsch. Sie versteht demnach weder englische noch französische Untertitel und dabei liefern doch gerade diese die Informationen, die es ihr überhaupt erst ermöglichen, der Handlung des Films folgen zu können. Wenn es in Filmen auch mal um Gehörlosigkeit geht, freut sie sich natürlich, jedoch gibt es auch hier einen Wermutstropfen: „Häufig spielen Hörende gehörlose Menschen und stellen die Gebärdensprache nach, ohne sie selbst wirklich zu verstehen.“ Ihrer Auffassung nach wären gehörlose Schauspieler besser dafür geeignet, da sie diese Kultur ja im Alltag leben. „Manchmal fühlt es sich dann so an, als würden die Darsteller uns die Sprache klauen.“

Aktuelle Debatten gehen so weit, Gehörlosigkeit nicht Behinderung und die Gebärdensprache einfach als sprachliche Minorität zu bezeichnen. Darauf angesprochen, meint Marie-Jeanne prompt: „Es ist doch keine Minorität, denn die Gemeinschaft ist schließlich nicht klein. Ich schäme mich nicht und zeige das überall offen. Denn ich liebe diese Sprache.“

* Anmerkung in eigener Sache: Dieser Artikel entstand im Auftrag der Hörgeschädigten-Beratung. Anne Schaaf wurde als Journalistin engagiert, hatte jedoch während des gesamten Projekts freie Hand über die Interviewfragen sowie den endgültigen Text.