Leben mit dem Krieg: Ein Streifzug durch die Front- und Hafenstadt Mariupol

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Die ukrainische Hafenstadt Mariupol liegt an der Frontlinie zwischen Regierungstruppen und prorussischen Separatisten. Dennoch sind die Cafés gefüllt, die Studierenden schicken sich und überhaupt blüht das Leben.

Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger, Mariupol

Das Meer liegt wellenlos gegenüber der Straße, noch dudelt die Strandbar vor sich hin. Sonst ist es ruhig, fast könnte man sich im Spätsommerurlaub wähnen. Plötzlich brechen zwei dumpfe Explosionen die Stille, weit weg, irgendwo im Osten, dort, wo die Hochhäuser in Datschensiedlungen übergehen.

335 „fliegende Projektile“ und ein paar Explosionen meldet die OSZE-Beobachtermission für diese Nacht aus der Gegend Mariupol. Die OSZE überwacht den Waffenstillstand seit Februar 2015. Sie kann die Verletzungen notieren, mehr nicht.
Die Fahrt tags darauf in die Nähe der nächtlichen Explosionen führt steil hinauf Richtung Zentrum. Am Stadtpark lernt ein Dreikäsehoch unter Großvaters Anleitung das Fahrradfahren. Ein südeuropäisches Flair hängt in den Altstadtstraßen, die Häuser sind niedrig, Weintrauben umranken Tore.

Der Fluss Kalmius teilt hier am Meer nur den Ost- und Westteil der Hafenstadt, erst ein paar Kilometer nördlich wird er zur Trennlinie zwischen den Kämpfern. Die mit ukrainischen Flaggen geschmückte Trasse führt am Azowstal entlang, also an der Eisenhütte im Herzen der Halb-Millionen-Stadt. Eine Shoppingmall, Plattensiedlungen und ein Kloster und man ist an der Sowjetischen Straße mit ihren schmucken Landhäusern. Der Checkpoint der Armee liegt gleich um die Biegung, dort geht es ohne Sonderbewilligung nicht mehr weiter.
Sergej und Igor haben sich zum Bier im Schatten des Ladens verabredet. „In der ersten Nacht sind wir mit meiner Frau in den Keller gegangen. Später nicht mehr. Man gewöhnt sich daran. Ich höre das Gewehrfeuer schon gar nicht mehr, die Artillerie auch nicht“, erzählt Igor. Der Hund schlage schon noch an, wenn es knalle, meint Sergej. Seine Nichte sei wegen der kleinen Kinder in den Westteil der Stadt umgezogen. „Sie schaffte das psychisch einfach nicht mehr“, erzählt er. Dann verfluchen die beiden Freunde den Krieg. Selbst mit dem Teufel müsste man reden, um den Zustand vor 2014 wiederherzustellen, meinen sie.

200.000 Flüchtlinge

Vor 2014 war Mariupol eine wichtige Provinzstadt in der Ostukraine, bekannt wegen der zwei großen Stahlhütten und dem Hafen unweit von Donezk. Nach Russland sind es nur 40 Kilometer, nach Kiew 750. Als im November 2013 in Kiew der Maidan begann, demonstrierten auch in Mariupol proeuropäische Kräfte. Doch sie waren in der Minderheit.

Am 9. Mai 2014 zündeten prorussische Demonstranten Stadtparlament und Polizeihauptwache an. Bei den Ausschreitungen gab es ein Dutzend Tote. Die Separatisten setzten sich durch, ein Monat lang gehörte Mariupol zur „Volksrepublik Donezk“. Dann wurde die Stadt am 13. Juni 2014 vom Freiwilligen-Bataillon „Azow“ für Kiew zurückerobert. Ohne Seitenwechsel der Oligarchen wäre dies nicht möglich gewesen, doch Raub, Gewalt und Rechtlosigkeit hatten sie erschreckt.

Seitdem ist die Stadtführung, darunter viele Wendehälse, stramm proukrainisch. Das Umland im Nordosten und Osten hingegen wird von den von Moskau mit Waffen, Kämpfern und Beratern unterstützten Separatisten beherrscht.

Nach Mariupol flüchteten aus diesen Teilen des Donbas bis zu 200.000 Bürger, genaue Zahlen, wie viele heute noch in der Stadt sind, kennt niemand. Bekannt ist einzig, von wo genau bis wohin die Küstenfront Richtung Osten verschoben werden konnte, nachdem ein Raketenangriff der Separatisten im Januar 2015 im Osten der Stadt 30 Todesopfer gekostet hatte.

Im Stadtzentrum ist vom Krieg wenig zu spüren. Hier und dort stehen noch ein paar der heute bunt bemalten Panzersperren. Vor dem angesagten Sapog-Café räkeln sich zwei Schönheiten mit einem Hündchen im Cabriolet. Das erweckt mehr Aufsehen als die beinamputierten Bettler in den Unterführungen. Auch in der Nachbarschaft sind hippe Caféklubs eröffnet worden. Da ist das La Rochelle beim sowjetischen Kino Sieg, das Kult an der Strandpromenade oder das Praha gegenüber der Uni. In einem einstigen Zentrum ziviler Armeehelfer gibt es sogar ein „Anti-Café“.

Wo vor vier Jahren Tarnnetze geknüpft wurden, werden heute Berufskurse für Erwachsene angeboten und junge Start-ups ausgebrütet. „Wir zeigen, wie man hier Geschäfte machen kann“, erzählt die junge Bürgeraktivistin Ira Kondratenko, „und stoppen so die Abwanderung der Besten.“ Ihr Wortschwall ist kaum zu bändigen. Auch der Vizerektor der Universität überquillt vor Optimismus. Das Semester hat noch nicht begonnen, doch die neuen Studenten schwirren bereits durch die Flure. Es wird gelacht, getratscht und geflirtet.

Produktion verringert

Mitverantwortlich für den Aufschwung Mariupols ist eine ukrainische Verwaltungsreform, die viel mehr Steuergelder direkt vor Ort belässt. Enver Tskitschwili stöhnt dennoch. Der Direktor von Azowstal hat seit Kriegsbeginn die Produktion seines Stahlgiganten fast um die Hälfte zurückfahren müssen. Wichtige Zulieferer sind auf der anderen Seite der Frontlinie geblieben, der russische Markt fast vollständig weggebrochen.

Zu aller Unbill kommt seit ein paar Monaten noch die Brücke auf die von Russland besetzte ukrainische Halbinsel Krim über die nahe Meerenge von Kertsch hinzu. „Sie stört große Kähne, und lange Wartezeiten verteuern den Schiffsverkehr“, klagt der Herr über 10.000 Arbeitsplätze im Gespräch bei Grüntee und Mineralwasser. Um die Lieferverträge einzuhalten, weicht Tskitschwili auf die teils gefährlich frontnahe Bahn aus, doch deren Kapazitäten reichen bei weitem nicht. „Acht Kilometer von hier wird jede Nacht gekämpft, alles hängt an der ukrainischen Armee, doch wenn wir aufgeben und keine Steuern mehr zahlen, ist Mariupol verloren“, sagt Tskitschwili. Es klingt wie eine Durchhalteparole, ein letztes Aufbäumen.