„Die Zeiten haben sich geändert“: Vor 20 Jahren wurde die Kufa in Esch nach großer Sanierung wiedereröffnet

„Die Zeiten haben sich geändert“: Vor 20 Jahren wurde die Kufa in Esch nach großer Sanierung wiedereröffnet

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15 Jahre lang war das Escher „Schluechthaus“ ein selbstverwaltetes, autonomes Kulturzentrum in einem besetzten Industriegebäude. Erst geduldet, dann verschmäht und schließlich doch gefördert, kam die Kulturfabrik Asbl. spätestens Mitte der 1990er Jahre nicht mehr um eine Renovierung herum. Auch wenn das nicht jedem gefiel, wurde das Kulturzentrum am 2. Oktober 1998 nach fast zweijähriger Sanierung feierlich wiedereröffnet. Der Leiter Serge Basso de March und Verwaltungsdirektor René Penning erklären, weshalb dieses Jubiläum für sie kein Grund zum Feiern ist, wieso Punk-Konzerte nicht mehr Teil des Programmes sind und in welche Richtung die Kulturfabrik sich in den kommenden Jahren entwickeln soll.

Lesen Sie zum Thema auch den Kommentar „Institutionalisiert – bei der Escher Kufa ist vieles anders als früher“.

 

Tageblatt: Vor 20 Jahren wurde die Kulturfabrik nach umfangreicher Sanierung wiedereröffnet. Wieso feiern Sie dieses Jubiläum nicht?

René Penning: Wir haben vor zehn Jahren gefeiert und haben uns auch diesmal gefragt, ob wir ein Fest veranstalten sollen. Doch die Kulturfabrik ist nicht erst 20, sondern schon fast 40 Jahre alt. Eigentlich ging es ja bereits 1981 los.

Vor 35 Jahren wurde zudem die Kulturfabrik Asbl. gegründet. Das wäre doch ein weiterer Grund zum Feiern …

R.P.: Ich finde, ein 35. Geburtstag ist kein Grund zum Feiern. Wenn wir feiern, dann im Jahr 2021 oder 2023. Ein Jubiläum zu organisieren, nimmt sehr viel Zeit und Arbeit in Anspruch. Momentan sind wir mit den Vorbereitungen für die Europäische Kulturhauptstadt 2022 beschäftigt, was schon zeitaufwendig genug ist. Deshalb mussten wir eine Entscheidung treffen.

Serge Basso de March: Wir haben uns dafür entschieden, an der Zukunft und nicht an der Vergangenheit zu arbeiten. Wir feiern unseren 20. Geburtstag, indem wir darüber nachdenken, wer wir sind und was aus uns werden wird.

Haben Sie noch Erinnerungen an den 2. Oktober 1998?

R.P.: Ich kann mich noch sehr gut an das große Eröffnungsfest mit der Compagnie „Theater of Fire“ und der Gruppe „Café Kolbert“ erinnern. Wie könnte ich das vergessen?

Die ersten Jahre nach der Wiedereröffnung waren nicht einfach. 1999 trat der gesamte Vorstand geschlossen zurück. 2000 verließen die langjährige Aktivistin und damalige „animatrice culturelle“ Michèle Hemmer und die Direktorin Karin Kremer die Kulturfabrik. Warum lief es am Anfang nicht?

S.B.: Als ich 2002 als neuer Direktor eingestellt wurde, war mehr als ein Viertel des Standorts geschlossen. Es waren nur neun Mitarbeiter im Team, die zudem nicht mehr motiviert waren. Es gab kein künstlerisches Projekt mehr. Die Brasserie war geschlossen. Und die Kulturfabrik hatte über 120.000 Euro Schulden. Diese Situation war an sich schon tragisch genug. Hinzu kam noch die Konkurrenz durch die Rockhal, die bald eröffnen sollte. Die Kulturfabrik war damals quasi tot. Wir mussten energisch kämpfen, um aus ihr eine Institution zu machen. Doch am Ende konnten wir unsere Seele behalten.

Wie äußerte sich dieser Kampf?

Die Mannschaft musste ihre Motivation wiederfinden, unsere Partner mussten das Vertrauen in uns zurückgewinnen, die Gebäude mussten wieder in Ordnung gebracht werden und wir mussten Schulden abbauen. Es waren schwierige Jahre, die aber mit viel Arbeit und Teamgeist überwunden werden konnten. Heute ist die Kulturfabrik ein Ort, der funktioniert und überall anerkannt wird.

Sie haben die Kulturfabrik professionalisiert. Heute arbeiten Sie nicht mehr mit Ehrenamtlichen. War das die einzige Alternative?

S.B.: „C’était ça ou c’était la mort.“ Zu einem gegebenen Zeitpunkt musste ich der Böse sein, der das Projekt zurück auf die Schiene bringt. Man hat mir dann vorgeworfen, ich würde das Alternative zerstören. Doch alles andere hätte das Ende bedeutet. Ohne Professionalisierung würde es die Kulturfabrik heute nicht mehr geben.

„Das Problem ist, dass wir häufig mit kleineren, dezentralen Kulturzentren verglichen werden. Wenn man sich aber die Fläche, das Einzugsgebiet und die Zahl der Veranstaltungen ansieht, sollte man uns eher an den ‚Rotondes‘ und ‚Neimënster‘ messen.“

René Penning; Verwaltungsdirektor

R.P.: Schon 2006 hatten wir uns auch ohne professionelle Struktur stark entwickelt. In diesem Jahr haben wir dann zusammen beschlossen, dass ich mich aus der musikalischen Programmierung zurückziehe und eine Verwaltungsstruktur aufbaue. Ich möchte gar nicht darüber reden, wie die Buchhaltung bis dahin funktioniert hat.

S.B.: Wir hatten damals nur acht Mitarbeiter und nicht einmal einen Kommunikationsbeauftragten. Irgendwann mussten wir uns einfach professionalisieren. Wir hatten keine Wahl.

Schon 1998 befürchteten kritische Beobachter, dass die Finanzierung durch Staat und Gemeinde zu viel Druck und Einfluss auf die Programmierung ausübt und das Konzept der Kultur für alle nicht mehr weitergeführt werden könnte. Hat sich diese Befürchtung 20 Jahre später bestätigt?

S.B.: Ob unsere Programmierung gut oder schlecht ist, können nur unsere Besucher beurteilen. Von Seite der öffentlichen Hand hat es bislang noch nie Druck gegeben, egal auf welcher Seite die politisch Verantwortlichen standen.

R.P.: Ich behaupte sogar, dass es keinen Verwaltungsrat eines Kulturhauses in Luxemburg gibt, in dem die Politik so wenig Macht hat, wie in der Kulturfabrik. Wir haben einen Vertreter der Regierung und einen der Gemeinde im Vorstand, die beide keinerlei Einfluss auf die Programmierung nehmen. Wir sind völlig frei in unserer Auswahl. Und das ist einzigartig in Luxemburg.

Der Vorstand

Michel Clees (Präsident)
Christian Kmiotek (Vizepräsident)
Yves Wagner (Sekretär)
Guy Assa (Kassenwart)
Daliah Scholl (Vertreterin der Stadt Esch)
Danièle Kohn-Stoffels (Vertreterin des Kulturministeriums)

Weitere Mitglieder:
 Nick Clesen
 Guy Dockendorf
 Nico Helminger
 Michèle Hemmer
 Sandrine Hoeltgen
 Jhemp Hoscheit
 Bernard Lahure
 Robert Schneider
 Roger Seimetz

Die Programmierung ist zwar in gewisser Weise noch immer alternativ, aber gleichzeitig auch politisch beliebiger geworden. Eine Veranstaltung wie „Claude Wiseler live“ wäre vor 20 Jahren definitiv nicht in der Kulturfabrik möglich gewesen. Sind Sie auf solche Versammlungen angewiesen, um überleben zu können?

R.P.: Ohne die Kulturministerin Erna Hennicot-Schoepges würde es die Kulturfabrik nicht mehr geben. Die damalige CSV-Regierung hat sich stärker für das Projekt eingesetzt als die Escher Gemeindeführung. Was „Claude Wiseler live“ betrifft, hat die CSV den Saal für einen Abend gemietet. Das machen aber alle anderen Parteien auch.

S.B.: Nur die ADR werden wir nicht annehmen. In diesem Punkt sind wir ganz deutlich.
Die Programmierung ist aber in weiten Teilen links ausgerichtet. Man braucht sich nur die engagierten Clowns oder das Projekt mit Charlie Hebdo anzusehen. Auch die Autoren, für die wir hier eintreten, sind sehr politisch. Den Parteien stellen wir unsere Räume zur Verfügung, selbst wenn wir nicht immer mit ihren Positionen einverstanden sind. Wir leben in einer Demokratie. Es gibt Bewegungen in Europa, die das ändern wollen, deshalb müssen wir die Demokratie in all ihren Formen verteidigen.

R.P.: All die Programme über Staatsbürgerschaft und andere Themen, die wir mit den Schulen durchführen, sieht die Öffentlichkeit nicht. Vielleicht sind diese Projekte aber wichtiger und nachhaltiger als ein Punk-Konzert.

Punk und Hardcore sind ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte der Kulturfabrik. Seit einigen Jahren finden kaum noch solche Konzerte statt. Wieso?

Finanzierung und Personal

Die Kulturfabrik Asbl. erhält rund 1,6 Millionen Euro an Subventionen, davon 900.000 Euro vom Staat und 700.000 Euro von der Stadt Esch. Hinzu kommen eigene Einnahmen in Höhe von 800.000 Euro, sodass das Gesamtbudget bei 2,4 Millionen Euro liegt. Die Kulturfabrik organisiert laut eigenen Angaben um die 250 Veranstaltungen pro Jahr. 2017 beschäftigte die Kufa 19 Mitarbeiter mit einem unbefristeten und sechs mit einem befristeten Arbeitsvertrag. Zehn Mitarbeiter waren über Maßnahmen zur Berufseingliederung eingestellt und sieben Personen absolvierten ein Praktikum.

R.P.: Als ich mich noch um die Programmierung kümmerte, gab es nicht diese enorme Konkurrenz durch die Rockhal und „den Atelier“. Heute werden in Luxemburg zehnmal mehr Konzerte organisiert als noch vor 15 oder 20 Jahren. Damals war es viel einfacher Bands wie Monster Magnet oder Queens of the Stone Age zu bekommen. Und es war billiger. Die Musik hat in der Kulturfabrik mittlerweile einen anderen Stellenwert als in den Anfangsjahren.

Ein weiteres Argument ist, dass es heute kein Publikum mehr für Punk- und Hardcore-Konzerte gibt, weil es die Wahl zwischen mindestens drei Shows pro Woche hat. Nicht nur in der Rockhal und im Atelier, sondern auch im Exhaus in Trier, in der Garage in Saarbrücken, im „Le Gueulard“ in Nilvange sowie in Metz und Nancy finden solche Konzerte statt. Wir haben es versucht, doch am Ende muss auch finanziell etwas übrig bleiben.
Heute geht unsere Programmierung eher in Richtung Heavy Metal. Dafür werden wir häufig kritisiert, doch dieses Publikum ist sehr treu, einfach und bescheiden. Die Zeiten haben sich geändert.

Verfügt die Kulturfabrik heute über ausreichend finanzielle Mittel, um gut funktionieren zu können?

S.B.: Wir sind besser aufgestellt als früher. Wir haben aber noch Probleme, bestimmte Projekte umzusetzen, die wir gerne machen würden. Zudem haben wir die Entscheidung getroffen, den Angestellten keinen 13. Monat auszuzahlen und ihre Gehälter entsprechen nicht denen von Mitarbeitern in vergleichbaren Häusern.

R.P.: Das Problem ist, dass wir häufig mit dezentralen Kulturzentren verglichen werden, die viel kleiner sind und über weniger Räume verfügen als wir. Wenn man sich aber die Fläche, das Einzugsgebiet und die Zahl der Veranstaltungen ansieht, sollte man uns eher an den „Rotondes“ und „Neimënster“ messen. Wir müssen immer kämpfen, um an deren Budget heranzukommen.

S.B.: Man muss aber auch betonen, dass wir ein sehr engagiertes Team haben und viele Entscheidungen im Kollektiv getroffen werden. Wir funktionieren nicht nach einer klassischen hierarchischen Struktur.

Sie haben die Europäische Kulturhauptstadt bereits angesprochen. Welche Rolle sollte die Kulturfabrik Ihrer Ansicht nach im Jahr 2022 spielen?

R.P.: 2016 haben wir mit den Vorbereitungen für die Europäische Kulturhauptstadt begonnen. Weil wir zu viele Ideen und gleichzeitig zu viel Arbeit hatten, haben wir im Januar 2017 Nathalie Ronvaux eingestellt, um acht Projekte für Esch 2022 auszuarbeiten und einzureichen. Wir sind demnach längst bereit.

S.B.: Man muss wissen, dass diese acht Projekte eine europäische Dimension haben und mittel- bis langfristig im Bereich der regionalen Entwicklung angelegt sind. Von den personellen Änderungen sind wir nicht direkt betroffen und wir wollen uns auch da raushalten.

Wegen der Verzögerungen, die dadurch entstanden sind, können wir die acht Projekte aber wahrscheinlich nicht alle umsetzen und müssen jetzt gemeinsam entscheiden, wie wir weitermachen wollen. Und wir warten noch immer gespannt auf die neue Mannschaft von Esch 2022.

Hatten Sie schon Kontakt zur neuen Generaldirektorin von Esch 2022 Nancy Braun?

S.B.: Nein. Sie nimmt erst Anfang November die Arbeit auf.

R.P.: Nein. Sie ist im Urlaub.

Im Rahmen des Kulturentwicklungsplans der Stadt Esch wird eine Vergrößerung der Kulturfabrik auf der Brache Esch-Schifflingen in Betracht gezogen. Wie stehen Sie zu dieser Idee?

R.P.: Wir arbeiten zurzeit mit internationalen Experten unsere Vision, unsere Ziele und unsere Struktur neu aus. Man sollte die Kulturfabrik heute nicht mehr als reines Kulturzentrum sehen. Alle Experten sagen, dass wir eher eine kulturelle, territoriale und grenzüberschreitende Entwicklungsagentur sind. Wir haben jetzt schon viele Projekte wie zum Beispiel „Urban Art“, die sich außerhalb der Mauern der Kulturfabrik abspielen.
In diesem Jahr haben wir damit begonnen, ein Projekt über Künstlerresidenzen auszuarbeiten. Die Räume, die wir zur Verfügung haben, reichen dafür nicht mehr aus. Deshalb würden wir in dem Bereich rund um das „Ratelach“ gerne professionelle Proberäume einrichten. Wir brauchen mehr Platz, die aktuelle Struktur ist zu klein geworden.

S.B.: Die Industriebrache Esch-Schifflingen grenzt an die Kulturfabrik. Sie liegt in unserem Viertel. Deshalb hoffen wir, dass wir die Alzette überqueren können und einen Platz in dem neuen Stadtviertel bekommen werden. Wie genau das später aussehen wird, muss man sehen.

R.P.: Die Kufa könnte eine Verbindung zwischen der traditionellen Stadt und dem neuen Viertel herstellen.

S.B.: Wir sind bereit, an den Diskussionen über Esch-Schifflingen teilzunehmen.


Zeitreise

 

Mit einem großen „Shutdown“ wurde die Kulturfabrik am 12. und 13. Juli vor der Renovierung geschlossen.

1886
In der rue de Luxembourg wird ein öffentlicher Schlachthof gebaut. Bis 1939 wird der Standort mehrmals vergrößert.

1979
Der Schlachthof wird geschlossen.

1981
Die Kühlhalle des ehemaligen Schlachthofs wird von dem Gymnasiallehrer Ed Maroldt und seinen Schülern für eine Theaterproduktion genutzt.

1982
Die Asbl. „Theater GmbH“ besetzt eine Lagerhalle und nutzt sie für Proben und Aufführungen. Einige Monate später eröffnen die Künstler der Asbl. „Galerie Terre Rouge“ eine Kunstgalerie in dem ehemaligen Schlachthof.

1983
Zahlreiche andere Künstler, Musiker und Schauspieler schließen sich der Gruppe an. Zusammen gründen sie die Kulturfabrik Asbl.

1984
Die Fassaden der Gebäude werden neu gestrichen. Theater- und Konzertsäle sowie Proberäume und Künstlerateliers werden eingerichtet. In den Folgejahren werden zahlreiche Konzerte, Theateraufführungen und Ausstellungen veranstaltet. Von 1985 bis 1995 werden im Sommer Ateliers für Kinder und Jugendliche angeboten, die sich großer Beliebtheit erfreuen.

Anfang Oktober 1998 berichtete das Tageblatt sehr umfangreich über die Wiedereröffnung der Kulturfabrik.

1990
Im „Schluechthaus“ entwickelt sich eine lebendige alternative Musikszene. Einige der Punk- und Hardcorebands, die dort proben, werden international bekannt und touren durch ganz Europa. Viele renommierte Bands aus dem Ausland treten im „Schluechthaus“ auf.

1996
Mit einem großen Shutdown-Festival wird die Kulturfabrik im Juli geschlossen. Im Dezember schließt die Kulturfabrik Asbl. eine Konvention mit dem Staat und der Stadt Esch zur zukünftigen Finanzierung des Kulturzentrums ab. Ein großer Teil der alternativen Musikszene wandert aus Protest und wegen fehlender Proberäume nach Bonneweg-Kaltreis ab, wo sie 1998 die „De Schwaarzen Drot Asbl.“ gründet, die 2001 wieder aufgelöst wird.

1998
Nach anderthalbjähriger Renovierung mit staatlichen und europäischen Fördergeldern wird die Kulturfabrik am 2. Oktober wiedereröffnet.

2016
Die Kulturfabrik wird als öffentliche Einrichtung anerkannt.

 

Institutionalisiert – Bei der Escher Kufa ist vieles anders als früher