Die Wettbewerbsfilme von Cannes im Überblick (2): La vita (non) è bella

Die Wettbewerbsfilme von Cannes im Überblick (2): La vita (non) è bella

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Auch wenn sie auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten – die vier heute vorgestellten Wettbewerbsfilme belichten allesamt die Tücken der Arbeitswelt und der zeitgenössischen (Selbst)Ausbeutung. Wo Loach die Mutationen des Systems darstellt, finden Jessica Hausner und Mati Diop surreale Metaphern für Unterdrückung und Arbeitsbesessenheit. Bei Malicks Drama ist das autonome Beackern des eigenen Feldes ganz in Voltaires Linie ein utopisches Unternehmen, das vom Lauf der Geschichte unterwandert wird.

(Anti)sozialer Realismus

Nach „I, Daniel Blake“ erforscht Ken Loach in „Sorry We Missed You“ weiterhin die Abgründe des späten Kapitalismus und bleibt ein präziser Beobachter der neoliberalen Mutationen, die das System im digitalen Zeitalter mitmacht.

Unter dem Deckmantel der Unabhängigkeit sehen wir, wie der uberisierte Arbeiter in eine Welt eingetaucht wird, in der Festanstellung nur noch als altbackene Versklavung belächelt wird. Was man den Arbeitskräften natürlich nicht verrät: Die digitalisierte Arbeitswelt schafft mehr Kontrolle, fordert mehr Leistung und jede Solidarität zwischen den Arbeitern wird bereits im Keim erstickt.

In der Anfangssequenz wird Ricky (Kris Hitchen) vom unbarmherzigen Maloney (Amateurschauspieler Ross Brewster) für eine Lieferfirma angeheuert. In den Zeiten von Uber ist jeder selbstangestellt, kann den großen Traum der Selbstverwirklichung leben. Bezahlt wird pro Lieferung, wer mehr arbeitet, verdient mehr, den Lieferwagen dazu kann man täglich mieten – das wird jedoch teuer, ergo ist es empfehlenswert, sofort in einen Gebrauchtwagen zu investieren. Wer das Geld dafür nicht aufbringen kann, ist von Anfang an benachteiligt.

Wer Loach kennt – oder mit dem neoliberalen Zynismus um die Ecke denkt – weiß, dass Ricky in eine Falle tappt. „Sorry We Missed You“ filmt konsequent den tragischen Absturz einer Figur und seiner Familie. Ehefrau Abby (Debby Honeywood) hat im wahrsten Sinne des Wortes einen Scheißjob – sie kümmert sich um Senioren, die zu Hause gepflegt werden müssen.

Sohn Seb (Rhys Stone) will auf keinen Fall wie der Vater enden, weiß aber auch nicht, was ein Uni-Diplom bringen soll. „Und danach betrinke ich mich jedes Wochenende, um zu verdrängen, wie kaputt mich der Job macht?“ Der Weg in die Illegalität erscheint ihm da schon verlockender. Seine kleine, kluge Schwester Liza Jane (Katie Proctor) versteht von all dem schon viel zu viel – als sie Ricky eines Tages beim Paketliefern begleitet, versucht ihr Vater in einer ergreifenden Szene, ihr die Alltagshölle verspielt darzustellen.

Da, wo das digitale Zeitalter jeden mit jedem verknüpfen könnte, sind die Arbeiter erstaunlich entsolidarisiert – jeder ist jedem ein Wolf, das System ist unerbittlich, untermauert jede Form menschlicher Verbindung, indem von Anfang an ein Konkurrenzdenken die Arbeitskräfte zu Rivalen macht. Ohne Arbeitsvertrag und Rechte wird ein jeder zum potenziellen Widersacher, die digitale Kontrolle erlaubt maximale Effizienz, sogar Chef Maloney unterliegt einem digitalen Leistungsmessgerät.

Krankheit, Familienmissstände sind nicht nur unerwünscht, sondern verboten, bedeuten Strafmaßnahmen, Diskriminierung und schnelle Entlassung – und da Überarbeitung zu Beziehungsspannungen führt, ist ein Teufelskreis unvermeidlich. Dem System ist das schnuppe – im Gegenzug sind Ausfälle deswegen erwünscht, weil die neuen Mitarbeiter noch voller Tatendrang und Energie sind.

In einer Schlüsselszene ist Ehefrau Abby bei einer Patientin zu Hause. Diese zeigt ihr Fotos von Arbeitersolidarität und Gewerkschaftskämpfen. Hier liegt der Wendepunkt der zeitgenössischen Geschichte – danach kam der Sieg des Zynismus, die Thatcher-Ära setzte sich in angelsächsischen Ländern als sozialwirtschaftliches Modell durch.

Kritiker werfen dem Film zum Teil vor, dass das Filmische untergeht, dass bei Loach die punktgenaue Analyse über dem Formalen steht. Das mag sein – aber was hätte dieser Geschichte eine Überästhetisierung genutzt? Wozu diesen sozialen Abgrund mit Schönheit überstreichen? Anderswo hört man, irgendwann würde der Film an Glaubwürdigkeit verlieren, weil der Hauptfigur einfach zu viel widerfährt. Was aber, wenn wir Kleinbürger dieses „Zuviel“ nur deswegen empfinden, weil sich uns der ganz normale, dunkle Alltag des Arbeiters in der zeitgenössischen Welt nicht mehr erschließt? Denn für ihren Film haben Ken Loach und Drehbuchautor Paul Laverty mit zahlreichen Auslieferern gesprochen – weswegen jede Szene und jeder Satz des Films sich erlebt und erlitten anfühlen. Die makellose schauspielerische Leistung trägt maßgeblich zu diesem Eindruck bei.

Die Schlussfolgerung dieses Films ist sowohl dunkel als auch hoffnungslos: Wir haben uns diesen Kreis der Hölle selbst erschaffen. Und leben längst darin. Da passt der Filmtitel („Sorry we missed you“ steht auf dem Lieferzettel, den man im Briefkasten liegen hat, wenn man nicht zu Hause war) wie die Faust aufs Auge – denn die zeitgenössische Versklavung, die wir Arbeitswelt nennen, verpasst keinen von uns.


Surreale Dystopien

In Jarmuschs „The Dead Don’t Die“ standen die Zombies für eine Gesellschaft, in der die Menschen wie leere Hüllen herumlaufen. In „Atlantique“ von Mati Diop und „Little Joe“ von Jessica Hausner werden lebende Menschen plötzlich von den Geistern schiffbrüchiger Arbeiter („Atlantique“) und von sterilisierten Pflanzen, die sich fortpflanzen möchten („Little Joe“), besetzt. Beiden Filmen liegt die Metapher der Entfremdung des Selbst in einer unbarmherzigen Arbeitswelt zugrunde.

Ada (Mame Bineta Sané) ist dem reichen Omar versprochen. Lieben tut sie aber den jungen Arbeiter Souleiman, der dabei helfen soll, ein prunkvolles Hochhaus für Reiche in Dakar zu errichten. Nachdem Souleiman und seine Arbeitskollegen drei Monate lang ihr Gehalt nicht ausgezahlt bekommen, entscheiden sich die verzweifelten jungen Menschen, ihr Land zu verlassen und mit einer Piroge Spanien zu erreichen.

Ada und ihre Freundinnen, die sich regelmäßig bei Einbruch der Nacht in einer Disco mit ihren Liebhabern treffen, verzweifeln, als sie von dem Wagnis erfahren. Im ersten Drittel des Films sehen wir, wie die junge Frau ihre arrangierte Ehe eingeht und parallel vom Schiffbruch der Arbeiter erfährt. Die Hochzeitsfeier endet allerdings damit, dass jemand Souleiman gesehen haben will – und ein Unbekannter das Ehebett in Brand gesetzt hat. Eine Ermittlung beginnt, als ein übermotivierter Polizist unbedingt herausfinden will, wo sich Souleiman befindet.

In der Mitte kippt der Film von einem fast naturalistisch gefilmten, präzisen Soziodrama in poetischen Surrealismus: Die unruhigen Schiffbrüchigen sind zurück, übernehmen die Körper ihrer Geliebten, um sich für die Missstände, die sie in den Tod getrieben haben, zu rächen.

Im Zentrum steht neben Ada auch die Figur des anfänglich kalten Ermittlers, der seiner Widersacherin auf ihrer Reise ans Ende der Nacht und in die Auflösung der klaren Grenzen zwischen Schicksalen und Individuen folgt.

Visuell setzt der Film ab seiner Mitte immer mehr auf bestechende Nachtaufnahmen und ein zunehmendes Ineinanderfließen der Sequenzen, als wolle Mati Diops schöner, diskret wütender „Atlantique“ zeigen, dass ihren Randfiguren in der gesetzesfreieren Zone der Nacht eine (utopische, provisorische) Umkehrung der Machtverhältnisse erlaubt werden könnte.

Zu Beginn von „Little Joe“ entwickelt die besessene Wissenschaftlerin Alice Woodard (Emily Beecham) zusammen mit ihrem Arbeitskollegen Chris (Ben Whishaw) eine Pflanze, die ihre Besitzer glücklich machen soll. Obwohl die im Laboratorium gezüchtete, sterile Pflanze sich noch in einer Testphase befindet, schenkt Alice ihrem Sohn Joe ein Exemplar. Weil sie ihr pubertierendes Scheidungskind wegen ihrer Arbeitsbesessenheit vernachlässigt, hofft sie, Joes Unzufriedenheit so zu lindern. Als die psychotische Arbeitskollegin Bella (Kerry Fox) meint, die Pflanze würde aus darwinistischem Überlebensinstinkt ihre Besitzer via Pollenbenebelung zu einer ungesunden Bindung zwingen, wird die Mitarbeiterin erst belächelt. Nur scheint Alices Umfeld sich progressiv zu ändern – ihre Mitarbeiter und ihr Sohn wirken allmählich abwesend, emotional abgestumpft.

„Little Joe“ wirkt stellenweise wie ein interessanter Kurzfilm, den man auf Spielfilmlänge wie schlechtes Koks gestreckt hätte. Die semantisch begründete hölzerne Charakterzeichnung, der experimentelle Soundtrack, der nervig und wirkungsvoll Elektronik und Panflötensound kombiniert, die schönen Aufnahmen, die wie fotografische Kunstwerke wirken: Alles ist überästhetisiert, kaschiert jedoch nicht die Momente erzählerischer Stagnation.

Die Unentschiedenheit dieses Films, der zwischen Psychodrama und Horrorfilm pendelt, wäre spannender, wenn sie sich auch auf semantischer Ebene widergespiegelt hätte. Eine Zeit lang fragt sich der Zuschauer, ob Alice ein Rad abhat und die Ängste einer besorgten Mutter externalisiert oder die Pollen von „Little Joe“ ihre Mitmenschen wirklich manipulieren. Diese Unentschiedenheit macht für den Literaturwissenschaftler Tzvetan Todorov die „hésitation fantastique“ aus und definiert das Fantasy-Genre in einem ständigen Pendeln zwischen Ratio und irrealer Welt. Leider entscheidet sich der Film zu schnell für eine der beiden Optionen.

Es bleibt eine sowohl ästhetisch wie auch semantisch etwas plakativ wirkende Kritik einer Gesellschaft, die Glück als Konsumgut verkauft: „Little Joe“ ist das Xanax von morgen. Welcher Außenstehende vermag es heute noch, so suggeriert es Hausners Film, zwischen realen und gespielten Gefühlen zu differenzieren? Und – hier wird der Film dann in seiner philosophischen Dimension beängstigender, als wenn er seine Horrorfilmanleihen allzu deutlich macht – wen interessiert dieser Unterschied überhaupt noch?


Das Gute, das Böse und die Selbstverliebtheit

Mit Schriftsteller Thomas Pynchon teilt Terrence Malick nicht nur das Unbehagen, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, sondern auch den spärlichen Veröffentlichungsrhythmus seiner frühen Berufsjahre. Denn genau wie Pynchon nach „Gravity’s Rainbow“ eine fast zwei Jahrzehnte andauernde Veröffentlichungspause einlegte, genauso gab es bei Malick zwischen „Days of Heaven“ (1978) und „The Thin Red Line (1998) eine Kluft von 20 Jahren.

Im Gegensatz zu Malick verloren Pynchons Werke aber in den letzten Jahren kaum an Qualität – weil der große Unbekannte der amerikanischen Literatur seine Ästhetik verdichtete, seine Romane weiterhin zwingend blieben, da, wo Malick sich in natur- und selbstverliebten formalen Übungen verlor.

Nach seiner von Kritikern eher skeptisch aufgefassten Trilogie (2012: „To the Wonder“, 2015: „Night of Cups“, 2017: „Song to Song“), im Laufe derer der Regisseur sich von der mystisch-kontemplativen Kosmogonie von „The Tree of Life“ (2011) löste, um sich mit der zeitgenössischen Welt auseinanderzusetzen, kehrt er bereits zwei Jahre nach dem letzten Werk mit einem Film zurück, dessen Themen eine bodenständigere Erzählung vermuten ließen.

In „A Hidden Life“ erzählt Malick die wahre Geschichte des Österreichers Franz Jägerstätter, der den rechtsradikalen Werdegang seines Südtiroler Dorfes mit Skepsis beobachtet, nach seiner Wehrmachtrekrutierung den Eid auf Hitler verweigert, deswegen im Knast landet und dann Monate später, nachdem man umsonst auf ihn eingeredet und seine Rebellion als absurd abgestempelt hatte, hingerichtet wird.

Dem Wahnsinn seiner Epoche kontert Jägerstätter mit sturem Schweigen – sogar als nationalsozialistische Anhänger ihm suggerieren, er könne sich doch in seinen Gesten fügen und in seinen Gedanken weiterhin gegen den Krieg und die Nazis sein.

In seiner Kurzgeschichte „Le silence de la mer“ erzählte Schriftsteller Vercors von einer Familie, die gezwungen wurde, einen deutschen Offizier aufzunehmen. Dem freundlichen Offizier setzt die Familie ein radikales Schweigen entgegen – diese poetische Verweigerung kennzeichnete das erste Buch der Éditions de Minuit, die während des Zweiten Weltkrieges im Widerstand ins Leben gerufen wurden. Es ist dasselbe undurchlässige Schweigen, das auch Jägerstätter charakterisiert. Nur scheint sich Malick viel weniger als Vercors für Story und Figurenzeichnung zu interessieren.

Böse Zungen würden behaupten, Malick hätte es fertiggebracht, ein wichtiges, leider wieder aktuelles Thema so verschwurbelt zu inszenieren und es so sehr mit bedeutungsschwangeren und zeitgleich sinnentleerten philosophischen Überlegungen zu überladen, dass man irgendwann das Thema des Films aus den Augen verliert.
In der Mitte des Streifens gibt es Momente, in denen die formalen Brüche (fragmentierte Szenen, schräge Close-ups, schnelle Szenenwechsel) so sehr überhand über die Erzählung nehmen, dass man fast vergisst, was hier eigentlich auf dem Spiel steht. Die Gleichgültigkeit der Natur, das Böse im Menschen – alles wird hier in teilweise zwar wunderschönen Plänen so mystisch symbolisiert, dass das Erlebte Malicks esoterischer Filmsprache zweckentfremdet und untergeordnet wird. Die Menschheitsgeschichte ist bloß ein narrativer Vorwand, um in goldenes Licht getauchte Wälder und Felder zu zeigen.

In Momenten, in denen der Regisseur die Erzählung wieder in den Griff bekommt – in der letzten halben Stunde –, fügen sich die Schönheit der Bilder mit der Entsetzlichkeit der Erzählung so zusammen, dass man zu spüren bekommt, wie wirkungsvoll Malick die Gleichgültigkeit der Natur und das Streben, das Richtige zu tun, inszenieren kann – wenn er sich nicht in der Nabelschau seiner eigenen Formverliebtheit verliert.

Die Wahl, die Figuren nur dann auf Deutsch (ohne Untertitel) reden zu lassen, wenn sie beten, wirres, fanatisches Zeug von sich geben oder Wutanfälle bekommen – die dominierende Sprache bleibt Englisch –, ist unverständlich und wirkt, als wolle Malick den Eindruck geben, der deutschen Sprache würde ein intrinsischer Barbarismus anhaften.

Dieser Fauxpas verdeutlicht, dass schon seit langem kein Produzent dem Regisseur mehr ins Werk pfuscht – weswegen Malicks Spätwerk immer autistischer wird. Vielleicht wäre dem Mann nach diesem produktiven Jahrzehnt mal wieder ein künstlerisches Schweigen anzuraten.