Der Präsident und die Wirklichkeit

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Sie sitzen zu zweit und zu dritt in der Präfektur von Saint-Lô, Hauptstadt des Département Manche und der Halbinsel Cotentin in der Normandie. „Internetpunkt“ steht an ihrem Schalter, aber in Wirklichkeit sind sie viel mehr. Sie sind der Anlaufpunkt für jeden, der sich nicht zurechtfindet in der Verwaltung, der ein Problem mit irgendeinem Papier hat oder gar ein Papier vergessen hat. Sie sind auch der Schalter, an dem die Menschen, die mit der Verwaltung so ihre Schwierigkeiten haben, ihren Frust und häufig auch ihre Wut auslassen.
Dabei sind sie gar keine Beamten oder Angestellten der Präfektur. Sie sind der sogenannte „Zivile Dienst“, in roten Jacken mit der Aufschrift „Kann ich Ihnen helfen?“ auf dem Rücken.

Wer jemals mit der französischen Verwaltung zu tun hatte, weiß, dass er Hilfe braucht. Denn: Was immer man möchte, es ist selten, dass ein Dossier von Beginn an komplett ist. In der Regel ist man immer zwei Mal da. Das Prinzip der französischen Verwaltung ist einfach: Man sollte alles im Internet finden. Termine macht man im Internet. Die Steuererklärung macht man im Internet, Formulare findet man im Internet und über das Internet bezahlt man auch seine Steuern. Demnächst darf man über das Internet sein Auto anmelden, oder ummelden, oder auch seinen Führerschein beantragen. Präsident Macron ist der Meinung, dass in Frankreich die schöne neue digitalisierte Verwaltungswelt vor der Tür steht. Wenn’s klappt ist das schön, aber allzu häufig funktioniert es eben nicht.

Komplizierte Verwaltungsangelegenheiten

Nur ist das nicht so einfach. Der Mann, der sich da bei Christopher (21) und Bérangère (24) am „Internetpunkt“ meldet, meint eigentlich alles richtig gemacht zu haben. Er hat sich seinen Termin für das Anmelden seines Autos gesucht, hat ihn gebucht, drei Wochen gewartet und ist am vereinbarten Tag in der Präfektur. Hier stellt Allison (21) nun fest, dass er – fast – alles richtig gemacht hat. Nur eine Kleinigkeit fehlt: Die Präfektur hat den Termin nicht bestätigt. Würde Allison nicht zu dem zivilen Dienst in roten Jacken gehören, wäre hier schon alles beendet. Der Mann käme nicht einmal in die Präfektur hinein, weil er nicht auf der Papier(!)-Terminliste steht. So aber leitet sie ihn zum Internet-Treffpunkt.

Christopher nimmt sich der Sache an und stellt fest, dass das Dossier eigentlich in Ordnung ist und bearbeitet werden kann. Aber da das Auto, das seinen Weg von Deutschland über Luxemburg nach Frankreich gefunden hat, vom Zoll nirgendwo gefunden wird, meint der, dass es gestohlen worden ist. Die Polizei meint das nicht, stellt aber eine intensive Recherche an und stellt fest, dass es ordnungsgemäß gekauft wurde, dass die Mehrwertsteuer bezahlt wurde, dass es über ein ordnungsgemäßes Transitkennzeichen verfügt, kurz, dass alles in Ordnung ist. Aber das dauert.

Christopher prüft derzeit, ob die Steuerfreigabe in Frankreich erfolgt ist. Ohne dieses Formular geht gar nichts. Es ist bei der Anmeldung eines ausländischen Autos in Frankreich eigentlich nur die Übertragung des Kaufvertrages in ein französisches Formular. Aber wenn man das nicht hat, kann man einpacken. Nun liegt das Finanzamt der Präfektur gegenüber. Man muss nur über einen Hof gehen. Aber das hilft nicht. Das Formular wird immer nur vom zuständigen Finanzamt ausgefüllt. Da wollte jemand in Avranches am Fuße des Mont Saint-Michel sein Formular ausfüllen, wurde aber in das 70 Kilometer entfernte Rennes geschickt, weil dort sein Finanzamt war. Als ein anderer „Kunde“ der Verwaltung in das 300 Kilometer entfernte Lille zurückgeschickt werden sollte, bedurfte es hoher Diplomatie, damit ihm vor Ort geholfen wurde.

Starre Strukturen und keine Eigeninitiative 

„Frankreich ist überverwaltet und deswegen unbeweglich“, stellen französische Journalisten fest. „Unbeweglich“ deswegen, weil die Beamten freundlich sind, aber am Buchstaben kleben und ihre Spielräume nicht nutzen. Das würde Eigeninitiative mit Risiko bedeuten, und das geht niemand ein. Anne Sinclair, Ikone des französischen Journalismus, beschreibt in ihrem Buch „21 rue La Boétie“, wie unsensibel sie, die jüdischer Herkunft ist und Enkelin eines der berühmtesten Kunsthändler vor und während der Nazizeit, bei der Beantragung eines neuen Passes behandelt wurde. Wie ihr erklärt wurde, dass sie nachweisen müsse, Französin zu sein, und ihr das Dossier dann in einer gelben Hülle zurückgegeben wurde.

Irgendwie gibt es Ähnliches in der Präfektur auf der Halbinsel des Cotentin. Als sich dort um 8.30 Uhr morgens die schweren Eisengitter heben, ist der Sicherheitsbeamte eindeutig. „Alle Ausländer auf die linke Seite“, alle anderen auf die rechte. Auf Nachfrage, wie das zu verstehen sei, sagt er, das wisse er nicht, das sei ihm so aufgetragen worden.

Davon wird auch der Mann mit der Anmeldung seines Autos aus Deutschland betroffen. Zur Bezahlung der Gebühren und des Malus, weil das Auto ein „unsauberer“ Diesel ist, braucht es einen Scheck. Und den hat der Mann nicht. Kreditkarte oder auch Debitkarte, die direkt vom Konto abbucht, werden abgelehnt. Das heißt, nach Hause fahren, Scheckbuch einpacken und am nächsten Morgen wiederkommen, wo wieder „Ausländer“ von „anderen“ Menschen getrennt werden.

Unsichere Zukunft

Christopher hat an jenem Tag seinen letzten Arbeitstag in der Präfektur. Er war ein Jahr lang der gute Geist. Für alle, die etwas von der Verwaltung wollten. Er hatte nach dem Abitur ein Jurastudium begonnen, es aber aufgegeben. „Die ersten beiden Jahre sind nur darauf angelegt, auszusieben“, sagt er. Er wollte nicht mehr, hat die Brocken hingeschmissen und sich bei der Präfektur verdingt. Bérangère hatte nach dem Abitur mit einem Psychologiestudium begonnen. Als sie schwanger wurde, brach sie es ab. Unterstützung von ihren Eltern erhielt sie nicht, sie schlägt sich alleine durch. Jetzt ist sie 24, ihr Sohn ist drei Jahre alt und sie fragt sich jeden Tag, wie das mit ihrem Kind weitergehen soll, denn für ihren Sohn lebt sie. Sie hat noch einen Vertrag bis Mai kommenden Jahres, Allison bis Juni 2018.

Im Grund werden die drei vom französischen Staat ausgebeutet. Sie sind keine Angestellten, sie sind keine Funktionäre. Sie erhalten keinen Lohn und auch kein Gehalt. Sie erhalten ein Entgelt, das zwischen 560 und 580 Euro liegt. Ausgebildet im Hinblick darauf, in einer Präfektur eine dauerhafte Tätigkeit übernehmen zu können, werden sie nicht. Obwohl sie zwischen Verwaltung und „Kunde der Verwaltung“ ein wichtiges Bindeglied sind, gelten sie als Fremdkörper. Sie werden in Wirklichkeit „geparkt“, um die Jugendarbeitslosigkeit zu senken. Und in Wirklichkeit sind sie heute schon die nächste verlorene Generation in Frankreich. Christopher wird von Saint-Lô nach Caen gehen und dort in einer „Sandwicherie“ Brote schmieren. Bérangère würde gerne nach ihrer Zeit in der Präfektur in ein Kinderprojekt im Rathaus einsteigen. Allison weiß noch nicht, will sehen, wie sich ihr Jahr in der Präfektur entwickelt.

Das Leben dieser drei – typischen – jungen Menschen in Frankreich ist das genaue Gegenteil von der Politik der Gewerkschaften, die auf lebenslange Arbeitsplätze pochen. Hier wächst eine Generation von Job-Hoppern heran, die nicht einmal Zeit für Illusionen hat. Staatspräsident Macron hatte dieser Generation versprochen, sich um sie zu kümmern. Es wird Zeit, denn dass Frankreich ihnen keine Geschenke machen und sich nicht um sie kümmern wird, erleben sie derzeit jeden Tag in ihrem Job in der Präfektur.

Jean-pierre goelff
26. August 2017 - 7.53

...und von einem wirklich schnellen Internet,so wie in Luxemburg,sind die Franzosen meilenweit entfernt!Vive la grande nation moyenageuse!