Auf dem Fleischmarkt: Guy Helmingers Stück „Jockey“ wurde im Kasemattentheater uraufgeführt

Auf dem Fleischmarkt: Guy Helmingers Stück „Jockey“ wurde im Kasemattentheater uraufgeführt

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Macht die Zwanglosigkeit der Onlineportale das Liebesleben reichhaltiger? Oder produziert Internetliebe bloß beziehungsunfähige Soziopathen? Guy Helmingers neues Stück wertet nicht, sondern reiht einsame Schicksale wie die Zahlen eines Algorithmus aneinander. Manchmal wirkt das zu lehrbuchhaft, oft aber deckt die Vulgarität des Stücks auf, wie beim digitalen Triebverhalten der Lack der Zivilisation abkratzt.

„Wir haben uns blöd gefickt. War schön. Aber hat nicht gereicht. Deshalb haben wir geheiratet.“ Tanja Filda ist eine von sieben Figuren, die sich im Beziehungsdschungel vom Online-Dating auf die Suche nach dem Glück machen. Wobei das Liebesglück im Zeitalter von Tinder für jeden anders ausschaut – für den einen bedeutet es einen schnellen Fick, für den anderen die Möglichkeit, seine eigene Identität mithilfe von Fake Accounts ins Unendliche zu multiplizieren, für noch andere ist es die Suche nach der großen Liebe, dem optimalen Partner oder einfach einem Spermapool, um der Unfruchtbarkeit des festen Freundes entgegenzuwirken.

Verbunden sind die sieben Figuren durch „Jockey“, eine neue Dating-App, die sich schön primitiv Pferde- und Reitmetaphern bedient: Wer das Profilfoto mag, wischt sich hier keinen potenziellen Partner, sondern klickt auf einen Pokal – hat das virtuelle Gegenüber ebenfalls auf die Siegestrophäe geklickt, haben beide einen Run. Zu Beginn des Stücks steht das Scheitern einer klassischen Beziehung. Tanja Filda und Oliver Krill haben sich in der Disco kennen gelernt, der erste sprachliche Austausch führt, aufgrund der Lautstärke der Musik, zu Missverständnissen, die wiederum in einen ersten Streit über die respektiven Tanzgewohnheiten übergehen („Du tanzt wie ein Sack voll Erde“, meint Tanja) – in einer Minute wird hier der Werdegang vielerlei Beziehungen auf eine deprimierende Weise verdichtet.

In der folgenden Szene trennt sich das Paar dann auch schon – und Oliver begegnet den früheren Schulfreund Lars in der Sonderbar, wo Letzterer ihn in die Welt des Online-Datings (und der Anglizismen) einführt. Das Stück porträtiert folglich die Irrungen und Wirrungen diverser Figuren auf dem Fleischmarkt, wo die Runs dazu dienen, den Selbstwert zu erhöhen, die Libido zu befriedigen oder die Einsamkeit zu überkommen. Die Liebe im Netz ist ein (oftmals urkomischer) Wettbewerb, bei dem sich zwar laut Werbung jede elf Minuten jemand verliebt – aber dies ist nur die Spitze des Eisbergs, betrachtet man die ungleich höhere Anzahl an Menschen, die sich nicht verlieben und emotional abgestumpft auf Pokale klicken. Und außerdem: Wer sagt, dass diese im Äther des Netzes entstandenen Gefühle auch erwidert werden?

„Die Seele in einen Pullover verstricken“

Nach seinem politischen Stück über die EU wendet sich Guy Helminger mit der Online-Partnersuche einem intimeren Thema zu. Wobei es gerade um die Porosität gewisser Grenzen geht: Die Beziehungskisten werden im Zeitalter von Tinder und Konsorten aus der Sphäre der Intimität hinaus in die Öffentlichkeit getragen, im digitalen Zeitalter verschiebt sich die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre, wovon die in Helmingers Textfassung über verschiedene Szenen verstreute, auf der Bühne aber in einer Sammelsequenz kompilierten Auszüge aus realen Chatrooms zeugen.

Wenn die Schauspieler diese verzweifelt lasziven und vulgär-peinlichen Sprüche rezitieren und sich darüber die Bäuche vor Lachen halten, kann man das Unbehagen im Raum spüren – das Kichern der Zuschauer über einen User, der mit seiner prallen Eichel prahlt oder die Sexualisierung von Gemüse- und Obst-Emojis hallt in die Leere des Saales. In den Chatrooms entblößen sich die User als ewige Teenies, die von ihren eigenen Trieben verunsichert scheinen. Anderswo kommentiert Helminger den Narzissmus digitaler Beziehungen – per Algorithmus findet man stets nur potenzielle Partner, die einem selbst ähneln, die Alternative wäre so was wie eine exotische Form von Eugenetik. „Jockey ist im Grunde wie eine Mutter, die die Ehe ihrer Kinder arrangiert.“

Das wirkt streckenweise wie ein Aphorismenband von jemandem, der altersklug auf die von jüngeren gewählten Verabredungsschemen herabschaut, Helminger verteilt seine Beobachtungen jedoch recht geschickt auf die zahlreichen Figuren, die von nur drei Schauspielern gespielt werden, was dank einer differenzierten, nur teilweise etwas groben Figurenzeichnung gut funktioniert. Eugénie Anselin spielt die Französin Tanja Filda, die Friseuse Karin Lommers und Renelde Viroll, Pitt Simon gibt den Jockey-Neuling Oliver Krill und den Richter Thomas, während Eidin Jalali den mythomanischen Wettbürobetreiber Lars Zant und den schwulen Lothar Stoer verkörpert. Chorale Stimmen versammelter Einsamkeiten ergänzen das trostlose Bild der virtuellen Liebessuche.

Bühne als Experimentierraum

Das mobile Bühnenbild stellt viereckige Projizierungsflächen wie überdimensionierte Smartphones dar, auf denen die Schatten der Figuren wie entstellte Profilbilder auf Onlineportalen wirken. Calle Fuhrs Inszenierung multipliziert die Regieeinfälle, als wolle sie vor den Redundanzen eines stellenweise etwas zu theoretischen (und überlangen) Textes ablenken. Das gelingt meistens sehr gut – eine Luftgitarren-Sequenz wird mit Luft-Kontrabass und Luft-Kastagnetten ergänzt, der Wechsel zwischen Erzähltem und Gezeigtem ist flüssig, oftmals erstarren die Figuren, als hätte jemand ein YouTube-Video gestoppt, die Bühne wird folglich zur Grauzone zwischen Wirklichkeitsdarstellung und Entstellung.

Irgendwann werden ganze Reihen von Zuschauern auf die Bühne geholt, die musikalische Untermalung funktioniert durch menschliche Beatboxes, Augenzwinkern und Kitsch (Anthony and the Johnsons „Hope There’s Someone“ ist eine wirklich ergreifende Schnulze). In einer Slapstick-Szene streiten zwei Menschen um einen Stuhl – die Inszenierung wählt das filmische Mittel der Slow-Motion und hebt wie in einem Comic kurzerhand die Gesetze der Schwerkraft auf, suggeriert wird der psychisch enge Raum, den sich ein Paar teilen muss. „Die Liebe braucht Raum.“ Und „im Digitalen ist mehr Platz als in den Menschen“.

Nur die Metaebene, die etwas zu verkopft das Beisammensein im Theater theorisiert und die Bühne als Experimentierraum, in dem Wirklichkeit und Fiktion ihre Fassung verlieren, definiert – das wirkt irgendwann so aufgesetzt wie das Lachen auf dem Selfie eines Tinder-Profilbildes.