30 Jahre nach dem Mauerfall wird die Erinnerung immer schiefer

30 Jahre nach dem Mauerfall wird die Erinnerung immer schiefer
Am 11.November öffnen DDR-Grenzschützer einen Teil der Mauer Foto: AFP/Gérard Maile

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Jubelnde Menschen auf der Mauerkrone vor dem Brandenburger Tor. Das ist das Symbolbild schlechthin für den 9. November 1989. Und ein Irrtum.

Von unserem Korrespondenten Werner Kolhoff, Berlin

Das Brandenburger Tor war ungefähr der einzige Ort in Berlin, an dem die Mauer in jener Nacht nicht aufging. Denn dort gab es keinen Übergang, sogar bis zum 22. Dezember nicht. Auch befinden sich so gut wie keine Ostdeutschen auf dem Foto, sondern fast nur feiernde West-Berliner und Touristen. Die Ost-Berliner gingen zur Bornholmer Brücke oder zur Invalidenstraße, dort, wo man wirklich rüber konnte. Und von da aus zum Kurfürstendamm, dem großen Sehnsuchtsziel.

Günther Schabowski verhaspelte sich, und schon war die Mauer weg

In Wirklichkeit zeigt das Bild sogar einen Moment, der diese ganze friedliche Nacht jäh hätte beenden können, noch ehe sie so richtig begonnen hatte. Denn die DDR-Grenztruppen interpretierten die Szene als das, was ihre Propaganda immer prophezeit hatte: Einen Angriff aus dem Westen auf den „antifaschistischen Schutzwall“. Es ist wenig bekannt, aber der West-Berliner Senat schickte noch in der Nacht Polizeifahrzeuge an diese Stelle, um das Grenzwerk zu schützen und die Lage zu beruhigen. Es blieb bei einem kurzen Wasserwerfer-Einsatz durch die DDR-Soldaten.

Im Nachhinein verschwimmen die Fakten. Weil man sich nicht anders erinnert, oder weil man sich nicht anders erinnern will. Die mutige Bürgerbewegung der DDR habe die Mauer zum Einsturz gebracht, heißt es. Wenn, dann hat sie das ganz sicher nicht gewollt. Ihr Verdienst liegt darin, das Regime geschwächt und verunsichert zu haben.

Es ging nur noch um die D-Mark

Ihr Verdienst liegt auch darin, die Menschen mutig gemacht zu haben. So mutig, dass sie nach Günter Schabowskis Pressekonferenz zu den Grenzübergängen gingen, völlig ohne Angst. Bis an der Bornholmer Straße ein einzelner Grenzoffizier, ein Mann namens Harald Jäger, dem Druck schließlich nachgab und die Schleusen öffnete, die dann nie mehr zugingen. Er hat neben Schabowski persönlich wohl den größten Anteil an diesem historischen Ereignis.

Die Maueröffnung in dieser Form wollte die Bürgerbewegung nicht. Noch heute geben ihre wichtigsten Aktivisten zu, dass sie damals geschockt waren, weil mit diesem Tag ihr großer Traum endete. Der von einer eigenständigen, wirklich demokratischen, kurz besseren DDR. Mit dem Mauerfall ging es nur noch um die D-Mark. Erst als Begrüßungsgeld, bald als gemeinsame Währung. Damit lockte Helmut Kohl im Wahlkampf zur ersten demokratischen Volkskammerwahl am 18. März 1990.

An jenem März-Sonntag traf ich zufällig Bärbel Bohley, die große Ikone der Bürgerbewegung, in einem Flugzeug von Bremen nach Berlin. Ich saß neben ihr. Sie zeigte nach unten, als wir über der DDR flogen, und sagte: „Jetzt wählen sie die Bananen“.

Heute wird der Mauerfall immer wieder mit der Einheit gleichgesetzt. Bei den Rückblicken werden die beiden Ereignisse regelrecht miteinander vermischt. Natürlich war die Grenzöffnung im Ergebnis der entscheidende Sargnargel für die DDR als Staat. Nur: Am Tag des Mauerfalls selbst spielte die Einheit noch überhaupt keine Rolle.

Führung wollte nur einen geordneten Reiseverkehr

Auch nicht bei den DDR-Bürgern, die hunderttausendfach West-Berlin stürmten. Den Kurfürstendamm, das KaDeWe, die Kneipen. Wenn, dann war diese Sehnsucht der meisten DDR-Bürger nach West-Konsum und West-Wohlstand der entscheidende Faktor für die Einheit.

Die DDR-Regierung wollte eigentlich einen geordneten, aber freien Reiseverkehr ab dem Morgen des 10. November einführen. Antrag bei den Polizeidienststellen, „Genehmigungen werden kurzfristig erteilt“. So stand es in dem Beschluss. Damit wäre auch die Bürgerbewegung einverstanden gewesen. Hätte Günter Schabowski nicht diesen Plan mit seiner Bemerkung, das Ganze gelte „ab sofort“, so grandios verstolpert, die DDR-Führung hätte womöglich die Kontrolle behalten. Wie wäre die Geschichte dann weitergegangen? Hätte sich das Regime stabilisieren können, vielleicht unter Einbeziehung der Opposition? Und: Hätten die DDR-Bürger einem solchen Experiment eine Chance gegeben? Einem zweiten deutschen Staat, demokratisch, aber arm und ohne D-Mark? Hätte schließlich Helmut Kohl ihm eine Chance gegeben, vielleicht mit Krediten?

Der Bundeskanzler vermied es am Nachmittag des 10. November bei seiner Rede vor dem Rathaus Schöneberg in Berlin peinlichst, das Wort Einheit in den Mund zu nehmen. Weil es noch lange nicht so weit war. Außenpolitisch ohnehin nicht. Außerdem gab es damals weder in Bonn noch im Berliner Senat in den Schubladen irgendwelche Pläne für eine Wiedervereinigung. Niemand hatte noch an sie geglaubt. Dann soll man nicht nachträglich so tun, als sei am 9. November schon alles klar gewesen.

Der Mauerfall steht heute auch für die friedliche Überwindung von Grenzen. Es ist ein Mutmacher-Ereignis. Freilich hätte es leicht ganz anders kommen können. Die „chinesische Lösung“, im Sommer zuvor in Peking auf dem Tiananmen-Platz blutig praktiziert, lag lange in der Luft. Auch noch am 9. November. In jener Nacht wurde eine Eliteeinheit aus Potsdam in Marsch gesetzt, berichten Historiker. Auch ich habe am Übergang Invalidenstraße damals einen Bus mit solchen Soldaten im Hintergrund gesehen. Sie warteten auf ihren Einsatzbefehl, der offensichtlich nicht mehr kam.

Die SED hatte 1989 nicht mehr die Kraft für einen Gewaltakt, zumal die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow sie dabei nicht unterstützt hätte. Aber dass auch nicht eine einzige Einheit von Stasi, Grenzern oder Polizei ausrastete, nicht ein einziger Offizier, das war wirklich verdammt großes Glück. So wie dieser ganze Tag.

*   Der Autor war 1989 Sprecher des Senats von Berlin


Die Mauer ist weg – und doch da

Von unserem Korrespondenten Hagen Strauß, Berlin

Die Mauer ist weg. Nur noch an ganz wenigen Stellen in der Hauptstadt findet man Reste des „antifaschistischen Schutzwalls“, wie die Mauer im DDR-Politjargon hieß. Dennoch ist das Ungetüm von einst, das Symbol für die deutsch-deutsche Teilung, nach wie vor ein Publikumsmagnet. 30 Jahre nach seinem Fall.

Der Verlauf der Mauer ist in Berlin lediglich noch durch abgesetzte Pflastersteine im Boden zu erkennen. Sie ziehen sich in einer Linie durch Mitte entlang des Brandenburger Tores bis hin zum Potsdamer Platz, wo sich die Touristen dann vor wenigen Mauerteilen fotografieren lassen können. Nachdem vor 30 Jahren SED-Politbüromitglied Günter Schabowski seinen historischen Satz „Das trifft nach meiner Kenntnis …, ist das sofort, unverzüglich“ gestammelt und die Grenzen damit geöffnet hatte, gab es kein Halten mehr. Tausende Mauerspechte machten sich bereits in der Nacht des 9. November mit Hammer und Meißel ans Werk. Noch heute werden von windigen Händlern an den Hotspots der Stadt kleine Steinstücke verkauft – angeblich Originale, versteht sich.

Sie waren glückselig und überschwänglich

„Ob richtig oder falsch – der Maßstab war das Wollen der Berliner, und die wollten das Ding weg haben“, so in diesen Tagen der ehemalige SPD-Politiker Walter Momper. Er war 1989 der Regierende Bürgermeister, der mit dem roten Schal. Die Bürger hatten ihn einfach satt, den Betonwall und das damit verbundene Leid. Sie waren glückselig und überschwänglich. Damals, so Momper weiter, habe sich die Frage gar nicht gestellt, ob große Teile als authentische Zeugnisse der Teilungsgeschichte bewahrt werden sollten. Diese Diskussion sei erst viel später aufgekommen. Auch habe die DDR seinerzeit entschieden, die Mauer abzutragen. „Und dann war sie weg – zur großen Freude der Berliner.“

Und das nach langen, quälenden 28 Jahren. Am 13. August 1961 gebaut, riegelte die Mauer Berlin auf einer Länge von 160 Kilometern ab. Heute ist die Strecke ein beliebter Rad- und Wanderweg. Immer noch wollen viele Besucher freilich wissen: „Wo stand sie denn genau?“ Dann schickt man die Fragenden zur Bernauer Straße, denn da ist der Wall über mehrere hundert Meter erhalten geblieben und markiert die Grenze zwischen Mitte (Ost) und Wedding (West). An der Bernauer Straße gibt es zudem die „Gedenkstätte Berliner Mauer“, weil hier die Folgen des Baus besonders drastisch waren.

Er trennte Nachbarn und Familien, die nur wenige Blöcke voneinander entfernt wohnten. Anfangs flüchteten etliche Ostberliner durch die Häuser direkt an der Mauer in den Westen, manchmal in das Sprungtuch der Feuerwehr – bis die Fenster zugemauert wurden. Zur Gedenkstätte gehören auch ein Dokumentationszentrum und die Kapelle der Versöhnung, die an der Stelle entstand, wo die DDR 1985 eine Kirche zur Grenzsicherung sprengen ließ.

Die Mauer-Storys

Wer noch mehr Mauer erleben will, der fährt weiter zur East Side Gallery nahe dem Berliner Ostbahnhof. Sie ist ein bemaltes 1,3 Kilometer langes Teilstück entlang der Spree. Mit über einhundert originalen Mauermalereien gilt sie als längste Open-Air-Galerie weltweit. „Der Bruderkuss“ von Honecker und Breschnew oder der durch die Mauer brechende Trabi sind die populärsten Motive. Inzwischen weltweit bekannt und als Postkarten und Poster zu kaufen.

Doch damit hat es sich auch schon mit längeren Abschnitten des Walls. „Wir haben uns selber die Frage gestellt, ob die Mauer-Storys überhaupt noch jemand hören will“, erzählt Burkhard Kieker, Geschäftsführer der Berliner Tourismusgesellschaft „visitBerlin“. Seine Antwort lautet: „Eindeutig ja.“ Auch 30 Jahre nach dem Fall hätten viele Besucher das Bedürfnis, authentische Orte zu erleben, „wo Geschichte geschrieben worden ist, im Guten wie im Bösen“. In der Rückschau sei es zwar verständlich, aber dennoch falsch gewesen, nicht mehr von der Mauer stehen gelassen zu haben.

Anlässlich der Festivitäten rund um den 9. November rechnet Kieker mit über einer Million Besuchern in der Stadt, von denen viele wieder auf den Spuren der Mauer wandeln werden. Inzwischen hilft dabei eine App: Man stellt sich an die Orte, wo sie gewesen ist, und das Handy zeigt, wie es dort bis zum 9. November 1989 aussah. Dann ist das Monstrum wieder da. Obwohl es zum Glück weg ist.

 

Heio Schall- Dämpfer
9. November 2019 - 16.01

Manchmal hab ich den Eindruck die wissen überhaupt nicht mehr aus welcher Ursache die Mauer überhaupt dahin gekommen ist? Unrechts Staat???