Die Angst vor dem Verlust des „Ichs“

Die Angst vor dem Verlust des „Ichs“
(dpa)

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Kunstsinnig, reich, Liebling der Frauen: Gunter Sachs war für viele der Inbegriff des schönen Lebens. Doch eine Furcht muss ihn verfolgt haben, die viele Ältere kennen: die Angst, das "Ich" zu verlieren.

Gunter Sachs galt als Lebemann, als Abenteurer, als einer, der das Dasein liebt. Es schockiert viele, dass ausgerechnet er sich das Leben genommen hat. Auch, weil er wohl wegen einer unheilbaren Krankheit ging, vor der etliche Menschen Angst haben: Alzheimer. „Jene Bedrohung galt mir schon immer als einziges Kriterium, meinem Leben ein Ende zu setzen“, schrieb Sachs in seinem Abschiedsbrief. „Der Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben wäre ein würdeloser Zustand, dem ich mich entschlossen habe, entschieden entgegenzutreten.“

Zunächst wirken Betroffene vergesslich – später erkennen sie die eigene Familie nicht mehr. Umfragen zeigen, dass eine Demenz zu den Leiden zählt, vor denen sich die Menschen am meisten fürchten – und deren Folgen sie sich und ihren Angehörigen ersparen möchten. Das zeigen am Montag auch viele Kommentare im Netz: „nachvollziehbar“, „mutig und richtig“, „gradlinige Entscheidung“, heißt es da über den Selbstmord.

Selbstdiagnose

Gunter Sachs stellte sich seine Diagnose offenbar selbst. „In den letzten Monaten habe ich durch die Lektüre einschlägiger Publikationen erkannt, an der ausweglosen Krankheit A. zu erkranken“, steht in seinem Brief. „A.“ steht wohl für „Alzheimer“ – im Internet und in Büchern werden etliche Tests angeboten, mit denen sich erste Symptome dieser Krankheit erkennen lassen. Betroffene verlaufen sich, vergessen Termine, lassen Dinge liegen, kaufen merkwürdig ein.

Längst ist die Krankheit in der Gesellschaft hochpräsent. Auch der frühere US-Präsident Ronald Reagan litt unter Alzheimer. Weltweit sind mehr als 35 Millionen Menschen dement – und die Zahl wächst rasant. Wissenschaftler rechnen mit 115 Millionen Demenzkranken bis zum Jahr 2050.

Menschenwürde

Wie lange ist ein Leben lebenswert? Die eigene Biografie und alle Erinnerungen verlieren, sämtliche Fähigkeiten verlernen, den Liebsten eine Last werden – für manchen ist diese Vorstellung unerträglich. Schon einige haben sich nach der Diagnose „Alzheimer“ das Leben genommen, auch Prominente. Im März 2008 schied der demenzkranke belgische Schriftsteller Hugo Claus mit ärztlicher Hilfe aus dem Leben – in Belgien eine legale Möglichkeit. Sein Tod entfachte eine Debatte um die Sterbehilfe, das Interesse an diesem Weg in den Tod nahm zu.

Der an Alzheimer erkrankte US-amerikanische Psychologieprofessor Richard Taylor sagte 2010 in einem Interview mit dem Magazin „Der Spiegel“, er habe unglaubliche Angst gehabt, eines Morgens aufzuwachen, „und eine Art von Vorhang trennt mich vom Rest der Welt“. Seither schrieb er seine Erlebnisse auf, die schließlich als Buch („Alzheimer und Ich“) erschienen sind.

Ungewissheit

Die Ungewissheit über seinen Zustand sei „wie Leben im Fegefeuer“ gewesen, die Diagnose „die Hölle“, sagte der Alzheimer-Aktivist dem „Spiegel“. Er sei depressiv geworden, Freunde und Kollegen hätten sich kaum mehr gemeldet. „Ich spüre, wie die Kluft zwischen mir und den anderen täglich größer wird.“ An Selbstmord habe er nur theoretisch gedacht. „In der Praxis verlieren Menschen mit Demenz irgendwann die Fähigkeit, das zu tun. Und ich würde das Recht, mich zu töten, an niemand anders delegieren wollen.“

Die gesellschaftliche Relevanz der Demenz wird allein ob der schieren Zahlen noch massiv zunehmen: Einer Studie britischer Wissenschaftler zufolge verdoppelt sich die weltweite Zahl der Demenzpatienten alle 20 Jahre. Grund sei vor allem die steigende Lebenserwartung. Tilman Jens beschrieb seinen demenzkranken Vater Walter Jens in dem Buch „Demenz – Abschied von meinem Vater“ als „stammelndes Menschenkind mit dem Babyphone am Bett“. Gunter Sachs mochte einen solchen Verfall des „Ichs“ wohl nicht akzeptieren.