Es hätte ein ganz gemütlicher Tag für alle Fahrer des Pelotons werden können – im Zielbereich herrschte allerdings Aufruhr aufseiten der belgischen Mannschaft Deceuninck Quick-Step. Die Rennleitung hatte beschlossen, den Träger des Gelben Trikots, Julian Alaphilippe, mit 20 Sekunden zu bestrafen, da er 17,1 Kilometer vor dem Ziel eine Trinkflasche entgegennahm. Laut Regelwerk ist dies auf den letzten 20 Kilometern nicht mehr gestattet.

Ansonsten passierte auf den 183 Kilometern von Gap nach Privas wenig. Wout van Aert (Jumbo-Visma) könnte Luke Rowe (Ineos) erklärt haben, wie er die vierte Etappe gewann, Weltmeister Mads Pedersen (Trek-Segafredo) war selbst 65 Kilometer vor dem Ziel noch im lockeren Austausch mit seinem Landsmann Sören Kragh Andersen (Sunweb) und Lukas Pöstlberger (Bora-hansgrohe) war entspannt genug, um Tanzbewegungen auf dem Rad auszuführen. Eine eher gemütliche Etappe, mit historischem Hintergrund: Kein Fahrer nahm die Flucht vor dem Peloton auf – eine Seltenheit bei der Tour. Mitunter kommt dies auf der Schlussetappe vor, ansonsten gab es seit 2008 auf jeder Etappe Ausreißer, die mindestens zehn Kilometer alleine unterwegs waren. In den 90er Jahren gab es zwei weitere Etappen, bei denen keine Ausreißer in den Geschichtsbüchern vermerkt sind: 1995 wurde eine Etappe in Gedenken an den am Vortag verstorbenen Fahrer Fabio Casartelli neutralisiert, drei Jahre später war der Grund ein Fahrerstreik. „Ich kann mir nicht wirklich erklären, warum es keine Ausreißergruppe gab“, sagte der Luxemburger Bob Jungels (Deceuninck-Quick Step) nach der Etappe. „Die Mannschaften haben gesehen, dass wir stark sind und Verantwortung übernehmen.“
Ruhiger Arbeitstag
Zeit gab es gestern auch genug für die Trainer der Mannschaften. Der Luxemburger Dan Lorang, Trainer von Bora-hansgrohe, fuhr etwa 20 Minuten vor dem Peloton in einem Auto seiner deutschen Mannschaft. „Es ist ein ruhiges Rennen“, wusste Lorang zu berichten. „Wir schauen auf die Windbedingungen oder gefährliche Streckenpassagen. Meine Aufgabe ist es, den Fahrern die letzten Informationen weiterzugeben.“ Der Luxemburger hatte gestern während der Etappe wegen des gelassenen Tempos die seltene Gelegenheit, die französische Landschaft zu genießen. „Man kann während der Etappen Daten der Fahrer auswerten, schaut sich das Rennen an oder redet mit dem Fahrer über alles Mögliche. Heute (gestern) habe ich die Chance, einen tollen Arbeitsplatz zu haben und ihn auch zu genießen.“ Ruhige Etappe, ruhiger Arbeitstag – auch für die Trainer.
Dass das Tempo am gestrigen Tag gemäßigt war, lag laut Lorang nicht daran, dass die Fahrer nicht in Topform wären – eher ist der Respekt vor den anstehenden Tagen zu groß. „Die gestrige (Montags-) Etappe war wirklich hart. Zudem wissen die Fahrer, dass noch zweieinhalb Wochen auf sie warten. Wenn sich also eine Möglichkeit ergibt, wird auch langsamer gefahren.“ Auf der gestrigen Etappe überquerte das Peloton die 800-Kilometer-Marke bei dieser Tour. Insgesamt sind es 3.484 Kilometer, die die Fahrer des Feldes in diesem Jahr von Nizza nach Paris zurücklegen müssen. „Heute (gestern) geht es eher darum, Kräfte zu sparen. Die Fahrer haben Respekt vor der morgigen (heutigen) Etappe, die sehr schwierig ist.“ Von größerer Bedeutung als in den letzten Jahren wird bei der diesjährigen Ausgabe laut Lorang die letzte Woche sein. Die fehlende Rennpraxis könnte dem einen oder anderen Fahrer ein Bein stellen. „Eine Rennwoche kann man im Training gut simulieren, aber darüber hinaus wird es schwierig. Ich kann mir gut vorstellen, dass einige Fahrer in der dritten Woche Probleme bekommen werden.“
Bedrückte Moral
Eine Tempoverschärfung gab es gestern doch zu verzeichnen: Nach 47 Kilometern konnte Sam Bennett (Deceuninck-Quick Step) den Sprint für sich entscheiden. Der Ire sammelte damit 20 Punkte und übernahm im virtuellen Klassement das Grüne Trikot von Peter Sagan (Bora-hansgrohe). Die Mannschaft um Sagan hat das Grüne Trikot in diesem Jahr noch mehr in den Fokus gerückt – auch, weil es schwer wird, in der Gesamtwertung mitzufahren. Der Fahrer für das Gesamtklassement, Emanuel Buchmann, stürzte beim Critérium du Dauphiné, zwei Wochen vor dem Start der Tour. Auch während der Grande Boucle plagen den deutschen Rücken- und Hüftprobleme. „Wir wussten, dass Buchmann nicht bei 100 Prozent sein kann“, erklärt Lorang. Der Viertplatzierte des letzten Jahres verlor auf der Etappe am Dienstag neun Sekunden auf die Gruppe der Favoriten – ein weiteres Indiz dafür, dass der 27-Jährige nicht im Vollbesitz seiner Kräfte ist. „Es ist nie schön, wenn man Zeit verliert. Wir wussten, dass wir mit einigen angeschlagenen Fahrern in Frankreich antreten. Aber noch ist nichts verloren.“
Auch Gregor Mühlberger, der Teil des Tour-Aufgebots von Bora-hansgrohe ist, stürzte auf der vierten Etappe des Critérium du Dauphiné. Auf der zweiten Etappe der Tour stürzte Pöstlberger. Das deutsche Team ist gebeutelt von Blessuren, moralisch wirkt die Mannschaft bedrückt. „Vor den Stürzen hatten wir das Ziel, einen Etappensieg zu holen, das Grüne Trikot in Paris zu tragen und auf dem Podium der Gesamtwertung zu landen“, erklärt Lorang. „Wir sind jetzt realistischer. Ein Etappensieg und das Grüne Trikot stehen immer noch auf der Agenda – aber mit der Gesamtwertung sind wir sehr vorsichtig. Wenn jemand stürzt, ist es sehr schwierig, bei der Tour noch unter die Top 3 zu fahren.“

„C’est de la merde“
Während sich Dan Lorang das Rennen in seinem Auto anschaute, sorgte im Peloton Bob Jungels (Deceuninck-Quick Step) für die Tempoarbeit. Der Luxemburger führte das Feld über 30 Kilometer an. Etwa von Kilometer 110 bis Kilometer 80 vor dem Ziel präsentierte Jungels die Farben seiner Mannschaft an der Spitze des Feldes. Erst zehn Kilometer vor Privas nahmen die Fahrer Tempo auf. Der Belgier Wout van Aert (Jumbo-Visma) konnte sich im Sprint vor Cees Bol (Sunweb) und Sam Bennett (Deceuninck-Quick Step) durchsetzen. Für Van Aert ist es der zweite Etappensieg bei der Tour de France. Bennett darf sich auf der heutigen Etappe das Grüne Trikot überstreifen. Bob Jungels kam als 109. mit 3:09 Minuten Rückstand im Ziel an. „Es ist schade, dass Julian auf diese Art das Gelbe Trikot verliert. Ich bin nicht im Teambus ins Hotel gefahren, aber ich kann mir vorstellen, dass jeder sehr enttäuscht war. Wegen einer Trinkflasche das Trikot abzugeben, ,c’est de la merde’“.
Am heutigen Donnerstag endet die sechste Etappe nach 191 Kilometern auf dem 1.560 Meter hohen Mont Aigoual. Eine richtige Bergankunft ist es nicht, auch wenn es vom Col de la Lusette – einem Berg der ersten Kategorie – 14 Kilometer vor Etappenende noch weiter hinaufgeht. Womöglich bietet sich eine gute Chance für Ausreißer. Laut Jungels wird seine belgische Mannschaft die Taktik nicht ändern. „Wir müssen das Rennen nicht kontrollieren. So, wie ich Julian kenne, ist er motiviert, ihnen zu zeigen, dass er sich das Gelbe Trikot verdient. Persönlich fühle ich mich auch besser. Wir werden morgen versuchen, so lange wie möglich bei Julian zu bleiben, um vielleicht dieses Trikot zurückzuerobern, auch wenn es schwer wird.“
Resultate
Radsport, 107. Tour de France, 5. Etappe: Gap – Privas (183 km):
1. Wout Van Aert (Belgien/Jumbo-Visma) 4:21:22 Stunden, 2. Cees Bol (Niederlande/Team Sunweb), 3. Sam Bennett (Irland/Deceuninck-Quick Step), 4. Peter Sagan (Slowakei/Bora-hansgrohe), 5. Jasper Stuyven (Belgien/Trek-Segafredo), 6. Luka Mezgec (Slowenien/Mitchelton-Scott), 7. Bryan Coquard (Frankreich/B&B Hotels-Vital Concept), 8. Caleb Ewan (Australien/Lotto-Soudal), 9. Clément Venturini (Frankreich/Ag2r La Mondiale), 10. Hugo Hofstetter (Frankreich/Israel Start-Up Nation) … 109. Bob Jungels (Luxemburg/Deceuninck-Quick Step) 3:09 zurück
Gesamtwertung nach 5 von 21 Etappen:
1. Adam Yates (Großbritannien/Mitchelton-Scott) 22:28:30 Stunden, 2. Primoz Roglic (Slowenien/Jumbo-Visma) 0:03 Minuten zurück, 3. Tadej Pogacar (Slowenien/UAE Team Emirates) 0:07, 4. Guillaume Martin (Frankreich/Cofidis) 0:09, 5. Egan Bernal (Kolumbien/Ineos Grenadiers) 0:13, 6. Tom Dumoulin (Niederlande/Jumbo-Visma), 7. Nairo Quintana (Kolumbien/Arkea-Samsic), 8. Esteban Chaves (Kolumbien/Mitchelton-Scott), 9. Miguel Angel Lopez (Kolumbien/Astana), 10. Romain Bardet (Frankreich/Ag2r) … 16. Julian Alaphilippe (Frankreich/Deceuninck-Quick Step) 0:16 … 58. Jungels 15:54
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