Ultras sorgen weltweit für farbenfrohe und lautstarke Kurven in den Stadien. Dennoch eilt ihnen ein negativer Ruf voraus. Denkt man an Ultras, denkt man oft zugleich an Gewalt. Der Historiker Dr. Sébastien Louis hat nun ein Buch mit dem Titel „Ultras, les autres protagonistes du football“ geschrieben.

Sébastien Louis
„1991 hat mein Vater mich zum ersten Mal mit ins Stade Josy Barthel genommen, wo mein Lieblingsverein Olympique Marseille im Europapokal zu Gast war. Für dieses besondere Spiel habe ich damals meinen ersten Schal bekommen. Im Block neben mir standen 100 Ultras von Marseille. Sie haben ihr Team die ganze Zeit lautstark angefeuert. Ich war so fasziniert von dem Treiben und wusste sofort, dass ich auch Teil von ihnen werden wollte“, schwärmt Dr. Sébastien Louis im Gespräch mit dem Tageblatt. Das Funkeln in seinen Augen verrät, dass diese Faszination bis heute anhält.
Von 1994 bis 2006 gehörte der Historiker dem Marseiller „Commando Ultra“ als aktives Mitglied an. In dieser Zeit begleitete er seinen Club quer durch ganz Frankreich und sogar zu internationalen Spielen. Der junge Ultra legte seine Leidenschaft jedoch nicht an den Stadiontoren ab, sondern er begann, Lesestoff über diese Jugendbewegung zu verschlingen. „Noch heute gilt das Buch ‚Generation Supporter: Enquête sur les ultras du football‘ des Journalisten Philippe Broussard für mich als Paradewerk zur Ultrakultur. Die ganzen Bücher wurden von Ethnologen oder Soziologen verfasst. Keines von einem Historiker. Ich wollte jedoch die Entstehungsgeschichte der Ultras historisch aufarbeiten“, so der Experte.
Die Anfänge der Ultrabewegung reichen bis in die 1960er-Jahre zurück. „Hippies konnten sich im konservativen Italien nie durchsetzen. Deshalb hat die Jugend andere Freiräume gesucht, um sich zu entfalten. Diese Räume fanden sie in den Stadien. 1968 tauchten beim AC Mailand und Sampdoria Genua die ersten Gruppierungen auf. Sie nannten sich Commando-Ultras. So kam die Bewegung zu ihrem Namen“, erklärt der Historiker dem Tageblatt. Immer wieder ist in Stadien zu hören, dass Fußball nichts mit Politik zu tun habe. Beides müsse streng voneinander getrennt werden. Dem widerspricht der Historiker jedoch vehement.
Vortrag
Am Dienstag um 19.30 Uhr stellt Dr. Sébastien Louis sein neues Buch in den Rotondes in Bonneweg vor. Das Buch beschreibt in sieben Kapiteln die Entstehungsgeschichte der Ultras bis zum heutigen globalen Phänomen, ohne dabei jemanden zu verurteilen, sondern dank Auswertung historischer Dokumente. Dr. Louis referiert morgen mit dem Luxemburger Historiker Denis Scuto über Ultras, aber auch über die Rolle der Politik im Fußballgeschäft.
Unpolitisch
„Am Anfang waren die Ultras nicht an politischen Themen interessiert. Sie wollten sich ausleben. Man kann sagen, die Ultras haben Einflüsse von der Extrem-Linken übernommen. Sie machen sich für gerechte Ticketpreise stark, unterstützen sozial Schwache. Auf der anderen Seite vertreten sie die Werte der Extrem-Rechten wie zum Beispiel identitäre Ideen. Heutzutage sind Ultras ein Spiegelbild der Gesellschaft. Es gibt faschistische, linke und politisch uninteressierte Ultragruppierungen.
In Italien tauchten vor ein paar Wochen Aufkleber auf, die Anne Frank in einem Trikot von der AS Rom zeigten. Der Aufschrei in den Medien war enorm und alle Fans des Stadtrivalen Lazio wurden als Faschisten abgestempelt. Man kann jedoch nicht alle in einen Topf werfen. Mich interessiert vielmehr, was Anne Frank heute für einen jungen Italiener bedeutet. Vielleicht müsste man auch das Bildungssystem in Frage stellen, da die Gräueltaten der Nazis möglicherweise ihre Schrecken verloren haben.“
Politische Turniere und Spielerwechsel
Der Historiker geht noch weiter und behauptet: „Fußball ist auch immer Politik. Man nehme nur die Weltmeisterschaft von 2002 in Japan und Südkorea. Es war das erste Mal, dass beide Länder nach den Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg zusammengearbeitet haben. Auch der Wechsel von Neymar zu Paris Saint-Germain ist meiner Meinung nach als politisch einzustufen. Genau so, wie die Rückkehr der Pariser Ultras in den Pariser Prinzenpark politisch und kommerziell einzuordnen ist. Ohne die Ultras hat der Club an Wert eingebüßt, deshalb hat der neue Besitzer die Ultras wieder in die Kurve geholt.
Der Fußball ist heute eine lukrative Industrie geworden. Da verkaufen sich leere Kurven einfach nicht gut. Ultras werden dämonisiert und sind dennoch Teil des Ganzen. In Ungarn wurden biometrische Abdrücke genommen, bevor die Fans in ein Stadion durften. Als die Fans nicht kamen, verzichtete der Club wieder auf diese Sicherheitsmaßnahmen“, erläutert Dr. Louis.
Global vernetzt
Die Symbolik der Ultras kann auf Außenstehende martialisch wirken. Hinter diesen Symbolen versteckt sich jedoch meistens nur jugendliches Gepose. „Die Stadien sind mittlerweile sehr sicher. In Diskotheken kommt es eher zu Gewalt als in Stadien. Trotzdem schränken immer neue Regelungen und zusätzliche Überwachungskameras die Grundrechte der Fans immer weiter ein. Im Rahmen der Terrorattacken in Frankreich wurden zehn strengere Gesetze verabschiedet. Ein paar betreffen auch Fußballfans und Ultras, obwohl sie nichts mit den Attacken zu tun haben“, gibt der Historiker zu bedenken.
Fälschlicherweise wird das Abbrennen von Pyrotechnik oftmals mit Gewalt in Verbindung gebracht. „Das Abbrennen von Pyrotechnik gehört für mich in die Kurven und steht für die aufflammenden Emotionen der Fans. Hierbei handelt es sich nicht um Gewalt.“
Auch wenn die Wurzeln der Ultrabewegung in den 1960ern in Italien liegen, hat das Internet zu ihrem Siegeszug beigetragen. „Die Fans vergleichen ihren Support im Internet. Alle wollen es in die Top 50 der besten Ultras schaffen. Irgendwie hängt alles zusammen. Vor ein paar Wochen stand ich in Indonesien vor einem 50 Meter langen Banner, das auf Italienisch geschrieben war. Das finde ich schon ziemlich beeindruckend. Auch in Luxemburg gibt es mittlerweile ein paar Ultragruppierungen“, so der Experte abschließend.
		    		
                    De Maart
                
                              
                          
                          
                          
                          
                          
                          
                          
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