Am Tag danach war die unfreiwillige Hauptdarstellerin der Eröffnungsfeier wieder eine Sportlerin unter vielen. Dilnigar Ilhamjan, die als symbolträchtige letzte Fackelträgerin heftigste Reaktionen hervorgerufen hatte, überquerte im Zhangjiakou-Langlaufzentrum die Ziellinie, stützte die Hände in die Hüften und schnappte nach Luft. Dann verschwand die 20-jährige Uigurin mit ihrem chinesischen Team, die Journalisten warteten anderthalb Stunden vergeblich in der Interviewzone.
Somit wusste niemand, wie sie selbst ihre umstrittene Rolle bei der frostigen Hochglanz-Auftaktshow interpretierte – als Antwort auf die Vorwürfe der Menschenrechtsverletzungen, wie es Chinas Staatspräsident Xi Jinping im Sinn hatte, oder als unverhohlene Propaganda. Als solche werteten vor allem westliche Medien, aber auch Exil-Uiguren und Menschenrechtler den vermeintlichen PR-Coup.
„Es hat mich zutiefst verletzt, dass der Hauptverantwortliche für die Notlage der Uiguren, eine Uigurin so schamlos für seine Propaganda ausgenutzt hat“, sagte Haiyuer Kuerban, Leiter des Berlin-Büros des Weltkongresses der Uiguren, dem SID: „Er will vor den Kameras der ganzen Welt zeigen, dass der uigurische Genozid nur eine Lüge wäre.“ Noch deutlichere Worte fand Hanno Schedler von der Gesellschaft für bedrohte Völker. „An das ausländische Publikum sendet Xi einen ausgestreckten Mittelfinger“, sagte er im SID-Interview, „damit will die chinesische Regierung sagen: Wir inszenieren unsere Propaganda und unsere Spiele so, wie es uns passt.“
IOC lobt „exzellente“ Auswahl
Während westliche Medien von einer „gewaltigen Provokation“ (Guardian) und einem „unverhohlenen Propagandaversuch“ (Daily Mail) schrieben, nannte Mark Adams, Sprecher des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), die Auswahl der letzten Fackelträger „exzellent“. Chinesische Diplomaten verbreiteten im Internet Videos von Ilhamjans Mutter, die ihrer Tochter stolz alles Gute wünschte, und Verwandten, die vor dem Fernseher begeistert applaudierten und sich ergriffen Tränen aus den Augen wischten.
Ilhamjan, die auf Mandarin übersetzt Dinigeer Yilamujiang heißt und so offiziell vom IOC geführt wird, beendete ihr erstes olympisches Rennen, den Skiathlon, auf Platz 43. Von ihrem Ziel, „bei Olympia eine Medaille zu gewinnen“, das sie dem chinesischen Auslands-TV-Sender CGTN genannt hatte, war sie meilenweit entfernt.
Die Tochter eines Skilehrers stammt aus Altay in Ostturkestan, offiziell Xinjiang, wo in den vergangenen Jahren mehr als eine Million Menschen in sogenannte Umerziehungslager gebracht wurden. Vor allem wegen dieser von Menschenrechtlern als „Völkermord“ bezeichneten Maßnahmen, die China bestreitet, hatten US-Präsident Joe Biden und mehrere westliche Regierungen einen diplomatischen Boykott der Spiele verhängt.
Ilhamjan, deren Vorname „Schönheit des Herzens“ bedeutet, hatte am Freitagabend zum Abschluss der Eröffnungsfeier zusammen mit dem Nordischen Kombinierer Zhao Jiawen die Fackel in eine gigantische Schneeflocke gesteckt.
Schon einmal trug ein Uigure die olympische Fackel – 2008 vor den Sommerspielen in Peking der damals 17-jährige Kamaltürk Yalqun. Auch er sollte der Beweis dafür sein, dass China seine Minderheiten respektieren würde. Mittlerweile lebt Yalqun in den USA und forderte einen Boykott der Winterspiele. Wie Uiguren tatsächlich behandelt werden, erlebte er 2016, als sein Vater Rozi, ein Herausgeber uigurischer Literatur, plötzlich verschwand. Verhaftet und zu 15 Jahren Gefängnis wegen „Subversion“ verurteilt. Er sah ihn nie wieder. (SID)
De Maart
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