Im Klub der HunderterEsch: Elsa Nüssli-Andriolo wird 100 Jahre alt

Im Klub der Hunderter / Esch: Elsa Nüssli-Andriolo wird 100 Jahre alt
Von Rümelingen in die Schweiz nach Esch: Elsa Nüssli-Andriolo feiert heute runden Geburtstag  Foto: Editpress/Julien Garroy

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Als sie geboren wurde, da war die Welt in Aufruhr. Der Erste Weltkrieg hallte nach, den Menschen ging es schlecht. Elsa Andriolo wurde in Rümelingen als drittes von acht Kindern einer Einwandererfamilie geboren. Heute feiert sie ihren 100. Geburtstag. Andriolos Rezept für ein langes Leben: Viel arbeiten!

Ehre, wem Ehre gebührt: Im CIPA „Op der Léier“ in Esch wird heute Elsa Nüssli-Andriolo gefeiert. Am 21. Dezember 1922 kam Elsa Andriolo in Rümelingen auf die Welt. Ihre Eltern waren im Jahr zuvor nach Luxemburg ausgewandert. In Italien waren die Rechten auf dem Vormarsch. Benito Mussolini hatte 1921 die faschistische Bewegung gegründet, 1922 startete er seinen letztlich von Erfolg gekrönten „Marsch auf Rom“. „Meine Eltern sind vor Mussolini nach Luxemburg geflohen“, sagt Elsa Nüssli-Andriolo im Gespräch in ihrem Zimmer im Seniorenheim. Die Familie stammt aus Nordost-Italien, genauer aus Vicenza in Venetien. Sie ließ sich in Rümelingen nieder, der Vater verdingte sich als Bergmann.

Die kleine Elsa war das drittgeborene Kind der Andriolos. Schon in jungen Jahren lernte sie Dino Ramberti kennen. Er wurde zu ihrer großen Jugendliebe. Doch als der Zweite Weltkrieg ausbrach und Luxemburg von den Nazi-Truppen besetzt wurde, landete Ramberti in der Villa Pauly, dem Gestapo-Hauptquartier der Besatzungsmacht. Als Ramberti wieder rauskam, flüchtete er nach Frankreich und schloss sich dort den „Maquis“ an. Im August 1944 fiel er bei Poitiers (F). „Das war ein Schock für mich“, erinnert sich Elsa Nüssli-Andriolo. Sie hatte als Jugendliche eine Lehre als Näherin abgeschlossen und fing nach dem Krieg wieder an zu arbeiten. Allein schon, um die Familie zu ernähren, denn ihr Vater und der ältere Bruder hatten ihre Arbeit verloren.

Die Schweiz

Sie lernte Jakob Nüssli kennen. Einen Schweizer, dessen Bruder mit einer Freundin von ihr zusammen war. 1949 heiratete sie ihn in Zürich. Das frisch vermählte Paar lebte in Rüti in der Nähe des Zürichsees. Jakob war Automechaniker, Elsa arbeite weiter als Näherin. „Wir führten ein einfaches Leben, haben nicht so viel verdient. Wir konnten nicht immer Butter essen, sondern mussten auf Margarine ausweichen. Meinen ersten Urlaub habe ich gemacht, als mir vom Arzt wegen meines Rheumas eine Kur verschrieben wurde“, erinnert sich Elsa Nüssli-Andriolo lachend. Dass sie nicht so richtig glücklich war, lag allerdings nicht am Geld: „Ich habe nicht so gerne in der Schweiz gelebt, die Menschen waren mir zu reserviert. Ich war lieber in Luxemburg.“ 1959 kehrte die Familie mit Sohn René nach Luxemburg zurück. Jakob sollte in Kayl eine Autowerkstatt betreiben, was allerdings nicht so recht funktionieren sollte: „Mein Mann war ein guter Arbeiter und Mechaniker, aber er hatte nichts von einem Geschäftsmann in sich“, sagt Elsa Nüssli-Andriolo.

 Elsa Nüssli-Andriolo
Elsa Nüssli-Andriolo Foto: Editpress/Julien Garroy

1972 zog die Familie zurück in die Schweiz, Jakob Nüssli musste sich um seine Familie kümmern. „Ich wollte nicht zurück, aber es blieb mir keine Wahl, wir waren ja verheiratet“, so Elsa Nüssli-Andriolo rückblickend. Als ihr Mann 1994 starb, zog sie nach Esch, wo sie bis Anfang dieses Jahres in ihrer Wohnung am Boulevard Kennedy wohnte. „Ich habe mich in Esch immer wohlgefühlt, war zufrieden in meiner Wohnung.“ Doch als sie zu Hause stürzte und sich am Rücken verletzte, verbrachte sie einige Zeit in CHEM und wurde dann im CIPA „Op der Léier“ untergebracht. Obwohl sie eigentlich nie in ein Seniorenheim wollte, fühlt Elsa Nüssli-Andriolo sich dort mittlerweile sehr wohl, wie sie sagt. Sie liest viel und schaut sich im Fernsehen am liebsten Dokumentationen an. Die älteste Bewohnerin ist sie „Op der Léier“ allerdings nicht, Rekordhalterin ist eine Dame mit 102 Jahren.

Als sie nach Luxemburg zurückkehrte, kümmerte sich Nüssli-Andriolo um ihre Familie, pflegte ihre Mutter und Geschwister. Von den acht Kindern leben noch drei. Ihre Schwester ist 93 Jahre alt und wohnt in Clerf im Altenheim. Eine weitere Schwester lebt in Italien. „In meiner Familie werden sie fast alle sehr alt“, sagt Elsa. Das Geheimnis eines langen Lebens? Elsa Nüssli-Andriolo lacht: „Es ist eben so gekommen, jetzt werde ich 100 und ich fühle mich noch immer gut. Die Ärzte sind zufrieden mit mir.“ Geraucht oder getrunken habe sie nie, dafür viel gearbeitet. Und sie stand nie gerne im Mittelpunkt, habe immer zuerst an andere gedacht und erst danach an sich selbst. Vielleicht auch ein Teil ihres Geheimnisses.

Im Mittelpunkt steht Elsa Nüssli-Andriolo heute ganz sicher, wenn im CIPA „Op der Léier“ auf die frisch gebackene Hundertjährige angestoßen wird. Willkommen im Klub der Hunderter, herzlichen Glückwunsch, Madame Nüssli-Andriolo!

Das Tageblatt vom 21.12.1922
Das Tageblatt vom 21.12.1922 Tageblatt-Archiv

Das Tageblatt vom 21.12.1922

1913 als Escher Tageblatt gegründet, hieß die Zeitung im Jahr 1922 Luxemburger Tageblatt, Untertitel „La Gazette de Luxembourg“. Sie kostete 15 Centimes und war in der Regel vier Seiten stark. Fotos gab es keine, der Inhalt bestand ausschließlich aus Artikeln und Anzeigen. Gut ein Drittel der ersten Seite füllte ein Fortsetzungsroman. In der Ausgabe vom 21.12.1922 findet sich unter der Rubrik „Aus dem Escher Bassin“ folgender Artikel über die Bevölkerung Eschs:
Volkszählung vom 1. Dezember 1922 in der Stadt Esch a.d. Alzette. Gesamtbevölkerung am 1. Dezember 21.647. Gesetzlich domiziliert 20.856. Bewohnte Häuser 2.498. Haushaltungen 4.527. Die Stadt Esch hat einen relativ kleinen Bevölkerungszuwachs aufzuweisen und wäre derselbe bedeutend höher geworden, wenn die Aachener Hütte unter Feuer stände. Über tausend Arbeiter wären in diesem Falle dort beschäftigt. Dann arbeiten auch die Bergwerke unter der Normalgrenze. Zu bemerken bleibt ferner, dass wegen der augenblicklich herrschenden Wohnungsnot die hier beschäftigten Arbeiter gezwungen sind, ihre Familie anderorts unterzubringen. Nach Nationalitäten verteilt sich die Bevölkerung wie folgt: Italiener: 2.134; Franzosen: 682; Engländer: 1; Belgier: 263; Holländer: 30; Deutsche 2650; Schweizer: 29; Russen: 72; Polen: 133; Ungarn: 44; Österreicher: 63; Tschechen: 20; Litauen: 64; Spanier: 5; Brasilianer: 2; Nordamerikaner: 14; Armenier (Türken) 1; Staatenlos: 215. Total: 6.422 Fremde.

Das Jahr 1922

1922 war ein turbulentes Jahr. Der Erste Weltkrieg hallte nach, die politische Lage war in vielen Ländern Europas fragil. Benito Mussolini startete seinen Marsch auf Rom, in Russland wurde Josef Stalin Generalsekretär der KPdSU. Am 30. Dezember kam es zur Gründung der Sowjetunion. In Irland herrschte Bürgerkrieg, ebenso bekriegten sich die Türkei und Griechenland. Immerhin aber konnte Ägypten seine Unabhängigkeit feiern.
1922 war aber auch das Jahr, an dem die erste Sitzung des internationalen Gerichtshofs in Den Haag stattfand und die erste Behandlung eines Diabetikers mit Insulin erfolgte. Das Grab des Tutanchamun wurde entdeckt, die BBC und der Goldmann-Verlag gegründet. James Joyces Klassiker „Ulysses“ erschien.
In Luxemburg wurde das Arbed-Gebäude in der „Nei Avenue“ in Luxemburg-Stadt eingeweiht. Die belgisch-luxemburgische Wirtschaftsunion trat in Kraft, sodass der belgische neben dem luxemburgischen Franc zur Währung wurde. Luxemburg zählte 261.643 Einwohner, wovon 45.676 in der Hauptstadt lebten und 20.856 in Esch (1.1.). Nach den unruhigen Zeiten seit dem Ende des Ersten Weltkrieges (die Kaufkraft war 1920 im Vergleich zu 1914 um 300 Prozent gesunken) und dem Generalstreik 1921 in den Stahlwerken und Eisenerzminen hatte sich die Lage 1922 etwas beruhigt. Die konservative Regierung Emile Reuter regierte das Land, Großherzogin war Charlotte.

1922 geboren: Telly Savalas (Schauspieler), Doris Day, Ava Gardner (Schauspielerinnen), Blake Edwards, Russ Meyer (Regisseure), Hugo Strasser (Jazzmusiker), Boutros Boutros-Ghali (UN-Generalsekretär), Robert Krieps (Politiker), Bim Diederich (Radsportler), René Bürger (Mediziner, Arzt von Charly Gaul).
1922 gestorben: Marcel Proust (Schriftsteller), Ernest Solveg (Chemiker und Industrieller), Wilhelm Voigt (alias der Hauptmann von Köpenick, am 3.1.22 in Luxemburg-Stadt), Joseph Junck (Gewerkschaftler).

Quellen: Statec, Gouvernement, Legilux, ELuxemburgensia, Wikipedia