Tageblatt: Herr Umarow, warum sind die Proteste der kasachischen Führung so entglitten, dass sie um Hilfe aus Moskau bat?
Temur Umarow: Dass die Demonstrationen, die im Westen des Landes mit sozioökonomischen Forderungen begannen, so ausarten, konnte niemand vorhersehen. Das hat alle, in Kasachstan und sonst auf der Welt, überrascht. Allerdings hat das autoritäre Regime in Kasachstan, wie das autoritären Regimes letztlich eigen ist, systematisch Fehler begangen. Die Verbindung zum Volk war nicht vorhanden. Die Herrscher hatten keine Kanäle, um die Stimmungen in der Gesellschaft zu erfassen. Die Radikalisierung auf den Straßen Kasachstans war präzedenzlos, und doch haben sich hier viele Elemente miteinander vermischt: die soziale Ungerechtigkeit, die Unzufriedenheit mit der korrupten Elite, der Wille nach politischer Beteiligung. Und plötzlich gesellten sich auch Schläger mit kriminellem Hintergrund hinzu. Es eskalierte.
Sehen wir hier einen Kampf der Clans?
Innerhalb der kasachischen Elite hat es schon immer Konflikte gegeben. Dem jetzigen Präsidenten Kassym-Schomart Tokajew war stets bewusst, dass er nicht von allen Gefolgsleuten Nursultan Nasarbajews als dessen Nachfolger getragen wird. Er wusste um den Druck, sprach auch öfter von Sabotage seiner Entscheidungen. Die Proteste kamen ihm geradewegs zupass. Er hat in ihnen eine Chance für sich gesehen und sie für seine Zwecke ausgenutzt: um seine Macht zu konsolidieren. Um sich Nasarbajew und seiner mächtigen Umgebung zu entledigen. Es hat in diesen Tagen der Gewalt eine wirkliche Übergabe der Macht stattgefunden.
Kasachstan dürfte eine Art Kopie von Belarus werden. Es wird Hunderte von Anklagen wegen Terrorismus geben, das ist gefährlich. Sie werden sich gegen alle richten: die Demonstranten, die Aktivisten, die Journalisten, die Menschenrechtler.
Hat sich Tokajew von Nasarbajew freigeschwommen?
Eindeutig ja. Er hat mit seiner Entscheidung, die Nasarbajew-treue Regierung zu entlassen, mit dem Schießbefehl, dem Hilferuf nach dem von Russland angeführten Militärbündnis ODKB, der Festnahme des Vize-Geheimdienstchefs Karim Massimow, eines Neffen von Nasarbajew, gezeigt, dass er nun der wirkliche Anführer Kasachstans ist. Nasarbajew sind alle Hebel der Macht genommen.
Wo ist der Mann, der sich Jelbassy nennt, „Führer der Nation“?
Nasarbajew hat sich seit Ende Dezember nicht mehr öffentlich gezeigt. Man kann nicht einmal sagen, ob er noch im Land ist oder sich doch, wie einige Beobachter behaupten, in China oder in Dubai aufhält. Nasarbajews Ära ist endgültig zu Ende. Tokajews Ära aber hat noch nicht angefangen. In der Gesellschaft wird er weiterhin mit Nasarbajew assoziiert. Tokajews Popularität ist nicht groß im Volk.
Sie dürfte kaum größer werden, jetzt, wo er Moskau zu Hilfe gerufen hat.
Tokajew hat das Land tatsächlich noch abhängiger von Russland gemacht. Er tut gerade viel daran, das Narrativ, Kasachstan sei von „Banden von außen“ angegriffen worden, in der Gesellschaft zu etablieren. Und gegen internationalen Terrorismus komme Kasachstan allein nicht an, so seine Lesart. Tokajew hatte offenbar wirklich Angst, dass die Sicherheitsleute nicht hinter ihm stehen könnten, dass es zu Ende gehen könnte mit ihm. Indem er russische Hilfe anfordert, zeigte er auch nach innen, dass er nicht machtlos ist.
Wohin wird er Kasachstan führen?
Die Zukunft Kasachstans ist als eine Mischung der Gegenwart von Russland und Belarus zu sehen. Kasachstan dürfte eine Art Kopie von Belarus werden. Es wird Hunderte von Anklagen geben wegen Terrorismus, das ist gefährlich. Sie werden sich gegen alle richten: die Demonstranten, die Aktivisten, die Journalisten, die Menschenrechtler. Die kasachische Opposition hatte es schon immer schwer im Land, jetzt wird sie wohl endgültig ausgeschaltet.

Zur Person
Temur Umarow, 1996 geboren und in Samarkand (Usbekistan) aufgewachsen, hat an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft Sinologie studiert und später an der Moskauer Diplomatenschmiede MGIMO und der Beijing Institute of International Business and Economics seinen Master in Internationaler Wirtschaft gemacht. Am Moskauer Carnegie-Zentrum untersucht er als wissenschaftlicher Mitarbeiter die Politik Zentralasiens wie auch die Beziehungen Chinas zu postsowjetischen Ländern.
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