Zum Ende hin, nachdem die ersten Gäste im Moskauer Veranstaltungszentrum Gostiny Dwor bereits zu gähnen angefangen hatten, holt Russlands Präsident Wladimir Putin sie plötzlich aus dem Halbschlaf: Russland werde seine Teilnahme am New-Start-Abkommen aussetzen, sagt er in seiner Rede an die Nation. Ein definitiver Ausstieg aus dem nuklearen Rüstungsvertrag mit den USA sei das zwar nicht. Sollten die Amerikaner allerdings ihre Waffen testen, so werde Moskau in nichts nachstehen, so Putin. Der Vertrag begrenzt die Nuklear-Arsenale beider Länder auf je 800 Trägersysteme und 1.550 einsatzbereite Atomsprengköpfe. Erst 2021 war die Laufzeit des Abkommens um fünf Jahre verlängert worden. Nun zeigt Putin, dass ihm letztlich jedwede Zusammenarbeit mit den USA unwichtig erscheint. Sein Hauptanliegen ist die „Front“: Armee, Wirtschaft, Politik, Kirche, Bildung, Soziales, jeder Bereich in Russland soll mobilisiert werden. Nur die „echten Patrioten“ seien in einem „großzügigen, unverwüstlichen, starken Russland“ zu Hause.
Was Putins Ankündigung bewirkt und ob sie mehr wert ist als scharfe Worte eines sich immer weiter radikalisierenden Präsidenten, müssen nun vor allem Experten klären. Die Schlagzeile aber ist dem russischen Oberbefehlshaber, der sich im Kampf gegen den „neoliberalen Totalitarismus des Westens“ und für die „einzigartige russische Zivilisation“ sieht, sicher.
Sie haben Pädophilie zur Norm ihres Lebens erklärt und wollen solche, als human dargebrachten Werte jedem in der Welt aufzwingen
Fast zwei Jahre lang hatte sich der 70-Jährige nicht – wie in der russischen Verfassung gefordert – Vertretern der Föderalen Versammlung, zusammengesetzt aus den beiden Parlamentskammern, gestellt. Die „Umstände“ hätten anderes verlangt, hieß es stets aus dem Kreml. Die „Umstände“ sind der Krieg in der Ukraine, die von Putin vor bald einem Jahr ausgerufene „militärische Spezialoperation“ im Nachbarland. Die Verantwortung dafür schiebt der Präsident beiseite. „Der Westen hat diesen Krieg losgetreten, und wir wenden Gewalt an, um ihn zu beenden.“ Das ist die bekannte offizielle Umdeutungsstrategie Moskaus. Putin ist sich seines „Rechtes“ und seiner „Wahrheit“ sicher. „Sie spucken drauf, wen sie für ihre Wetteinsätze gegen uns gebrauchen. Sie haben schon in den 30er Jahren einen Krieg gegen uns entfacht. Und jetzt versuchen sie es wieder, um uns endgültig zu schlagen“, behauptet er. Russland kämpfe keineswegs gegen das ukrainische Volk, es sei der „verlogene Westen“, der das Land besetzt halte und alle Menschen in der Ukraine als Gebrauchsmaterial und das Land als Waffenplatz gegen Russland einsetze. „Sie haben Pädophilie zur Norm ihres Lebens erklärt und wollen solche, als human dargebrachten Werte jedem in der Welt aufzwingen. Ihr Ziel dabei ist es, uns die historischen Territorien, die jetzt Ukraine heißen, zu entreißen.“ „Sie“, das ist der Westen, das sind die USA. Dem Kremlchef ist kein perfides Narrativ zu schade, um sein Land darauf einzuschwören, dass der Krieg ein langer sein wird.
Alles für den Sieg
Knapp zwei Stunden lang wiederholt er Versatzstücke seiner Erzählung vom „geduldigen, stets auf Ehrlichkeit hinauswollenden, vom degenerierten Westen aber lange Zeit vertrösteten und beleidigten Russland“. Im Publikum sitzen auch einige aus der Ukraine zurückgekehrte Soldaten in feierlichen Uniformen und mit Krücken. Die meisten Menschen im Land glauben Putins Erzählung, sie haben sie längst zu ihrer gemacht und stehen hinter ihrem Präsidenten, der auch am Dienstag von „ein Land, ein Volk, eine Wahrheit“ spricht. Der Begriff „Krieg“ – im Zusammenhang mit den Kämpfen in der Ukraine laut russischem Gesetz eigentlich verboten – zieht sich durch Putins gesamte Rede. „Wir werden alles tun für die Sache. Wir werden alles tun für den Sieg“, sagt er, die Gäste applaudieren. Was dieses „alles“ aber ist, erläutert er nicht. Die Menschen, spätestens seit der Ausrufung der Mobilisierung in Alarmbereitschaft, würden – selbst, wenn sie den Krieg tragen – durchaus gern wissen, wie dieser Krieg weitergehen, wie er beendet werden soll. Konkretes aber liefert Putin nicht. Für ihn ist dieser ein Mittel, sein Land umzubauen. Wirtschaftlich, politisch, auch moralisch. Es soll eine Art „neuer Russe“ entstehen: einer, der für den Kampf fürs Vaterland „alles gibt“. Letztlich einer, der sich von der Machtelite zum Objekt machen lässt und nichts in Frage stellt. Dafür sollen auch Bildungsreformen her.
Der Krieg funktioniert nicht nur als Umwandler der Wirtschaft, sondern auch als sozialer Lift, die „Erfahrung der Kämpfenden“ solle in jedem Bereich des Landes Einzug finden. Zurückgekehrte sollen in die Politik gehen, ihre Kinder und auch Kinder Gefallener einfacher Studienplätze bekommen. „Wir sind uns in unserer Stärke sicher“, ruft Putin. Hymne. Standing Ovations. Hinaus zum Töten.
De Maart
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