Das Neujahr begrüßte der bereits 374. festgenommene Reporter seit August in U-Haft. Sonst aber waren seit den katholischen Weihnachten seit langem etwas weniger Gewalt und weniger Festnahmen zu vermelden. Dies liegt mitunter an einem Taktikwechsel der Opposition, die im fünften Protestmonat die direkte Konfrontation mit dem Sicherheitsapparat des Regimes meidet und ihre Proteste noch mehr dezentralisiert hat. Großdemonstrationen und Märsche vor den Präsidentenpalast werden nicht mehr angestrebt. Stattdessen kommt es an den Protestsonntagen zu vielen kleinen Umzügen in den Stadtteilen der Millionenstadt Minsk und auch in kleineren Städten im ganzen Land. Diese Proteste werden meist lokal und autonom von unten organisiert.
Der sich inzwischen immer mehr als Exilregierung präsentierende „Koordinationsrat“ von Swetlana Tichanowskaja und sie selbst haben darauf wenig Einfluss, auch wenn der Telegram-Kanal ihres inhaftierten Ehemannes ein wichtiges Koordinationsinstrument geblieben ist. Dabei werden die Sondereinheiten des Diktators immer wieder mit Fantasie ausgetrickst. So verkleideten sich die Demonstranten im Dezember als Nikoläuse, die mit ihren weiß-roten Mützen eben dennoch die verbotene Farbe der Opposition zeigten.
Opposition mit Fantasie
Eine Gruppe von Rentnern konnte in der letzten Woche des alten Jahres gar weitgehend unbehelligt drei verbotene weiß-rot-weiße Landesflaggen durch Minsk tragen. Dass dies alles andere als ungefährlich ist, zeigen jedoch andere Prügelorgien gegen die meist montags protestierenden Rentner vom Dezember. Wie bei den samstäglichen Frauenprotesten haben die Sicherheitskräfte inzwischen ihre anfängliche Zurückhaltung abgelegt und sind dazu übergangen, auch noch weit über 80-jährige Rentner festzunehmen. Dazu häufen sich Berichte, dass noch gesunde Gefangene des Regimes mutwillig in Zellen mit Covid-Infizierten gesteckt werden. Ein Rentner soll dabei bereits ums Leben gekommen sein.
Als Zeichen der Hoffnung wurde am Weihnachtsabend indes die Rückkehr des Minsker Erzbischofs Tadeusz Kondrusiewicz gefeiert. Der Vorsitzende der Katholischen Kirche Weißrusslands war Ende August nach einem Privatbesuch in Polen an der Einreise gehindert worden. Kondrusiewicz hatte zuvor in mehreren damals noch live vom weißrussischen Staatsfernsehen übertragenen Predigten zuerst faire und demokratische Wahlen gefordert und dann die massive Polizeigewalt gegen die Demonstranten verurteilt.
Nun wurde Erzbischof Kondrusiewicz nach langen Verhandlungen mit dem Vatikan und dem Corona-bedingt mit mehrmonatiger Verspätung in Minsk eingetroffenen römischen Nuntius, dem Kroaten Ante Jozic, von Lukaschenko höchstpersönlich die Rückkehr gestattet. Er habe sich dabei nicht von politischen Motiven leiten lassen, beteuerte der am 9. August angeblich für eine sechste Amtszeit bestätigte Autokrat, der sich ohne Unterstützung des Kremls kaum mehr halten könnte. Jedoch muss Kondrusiewicz altershalber bald abgelöst werden. Kritische Beobachter aus Weißrussland vermuten einen Deal Lukaschenkos mit dem Heiligen Stuhl, der darauf hinauslaufe, Kondrusiewiczs kämpferischen und regimekritischen Stellvertreter, Weihbischof Jurij Kasabucki, nicht im Amt nachrücken zu lassen.
Von Corona zum Volksaufstand
Auch das Regime schöpfte offenbar etwas Hoffnung, dass 2021 ruhiger würde als das Vorjahr. Die Proteste fänden nur noch im Internet statt, frohlockte zu Weihnachten noch der Chef der gefürchteten OMON-Sondereinheit. Doch just am 24. Dezember will der Geheimdienst KGB eine Terroristengruppe enttarnt haben, die Waffen aus der Ukraine nach Weißrussland für Silvester-Anschläge geschmuggelt hätte. Verhaftet wurden ein orthodoxer Priester, seine Familie und eine behinderte Rentnerin.
So absurd wieder einmal vieles aus Weißrussland klingen mag, das Regime ist lange noch nicht am Ende. Noch hält die Gruppe um Lukaschenko zusammen und usurpiert den Staat, die Opposition bröckelt ebenso wenig. Wie zwei Ringer haben sich die beiden an den Hosen gefasst und keiner lässt nach.
Begonnen hatte es im März 2020, als der Diktator in der Mitte seines 26. Amtsjahres behauptete, beim Coronavirus handle es sich um ein Hirngespinst und wer daran sterbe, sei selber schuld. „Ich sehe kein Virus“, höhnte Lukaschenko und verschrieb seinem Volk Wodka, Traktorfahren und sexuelle Enthaltsamkeit. Seinem Gesundheitsministerium befahl der Diktator in der Wahlkampagne für seine sechste Amtszeit aber die massive Senkung der Todeszahlen. Dies brachte das Fass zum Überlaufen und trieb drei Oppositionskandidaten erstmals seit 2001 Hunderttausende in die Arme. Lukaschenko ließ daraufhin seine Herausforderer kurzerhand verhaften, registrierte aber für die Opposition die Hausfrau Swetlana Tichanowskaja.
Zwei Neujahrsansprachen
Als die vom Regime verlachte Ersatzkandidatin die Präsidentschaftswahlen vom 9. August mutmaßlich gewann, wurden die traditionellen Nachwahlproteste wegen des brutalen Eingreifens der Sicherheitskräfte zum Volksaufstand. Seit 141 Tagen wird seitdem in Weißrussland für faire und freie Neuwahlen demonstriert, am aktivsten an den Sonntagen. Doch jeden Tag zeigen Bürger, die vorher zumeist brav zu Hause saßen und dachten, die Opposition sei eine Gruppe von aus dem Ausland finanzierten Spinnern, Zeichen des Widerstands. Viele zahlen die Steuern nicht mehr. Rund 32.000 Bürger wurden seit August verhaftet und zu hohen Bußen oder Haftstrafen bis 15 Tagen verdonnert. Hunderte wurden in U-Haft gefoltert. Weit über Hundert sitzen mehrjährige Gefängnisstrafen ab, über Tausend warten noch auf einen Prozess. Dazu kommt ein knappes Dutzend Demonstranten, die von den Sicherheitskräften getötet wurden.
Viele Weißrussen ließen sich dadurch wieder einschüchtern, und dennoch gehen die Proteste immer mehr dezentral und von unten organisiert weiter. Swetlana Tichanowskaja, die bereits im August ins Exil nach Litauen gezwungen wurde, etabliert sich immer mehr als wichtigste Politikerin Weißrusslands, als Gegenpräsidentin, die in den letzten vier Monaten zehn europäische Hauptstädte besucht und die EU sowie die USA dazu gebracht hat, Lukaschenko nicht mehr als Präsidenten Weißrusslands anzuerkennen. Und erstmals hielten in Weißrussland zwei „Präsidenten“ eine Neujahrsansprache – und zwar gleichzeitig. Lukaschenko wandte sich an Mitternacht auf Russisch an seine Untertanen, die eigentlich von Haus aus ebenso russischsprachige Tichanowskaja tat dasselbe in einer Videobotschaft aus dem litauischen Vilnius auf Weißrussisch. Der Verkauf von Feuerwerkskörpern war bereits ein paar Tage zuvor massiv eingeschränkt worden. Damit sollte verhindert werden, dass sich Neujahrsfeiern auf öffentlichen Plätzen in gefährliche Demonstrationszüge umgestalten. Die wichtigsten Plätze wurden von Sicherheitskräften bewacht, die allerdings zumeist in nahen Bussen warteten, um die traditionellen Neujahrsfeiern nicht allzu sehr zu stören.
Alexander Lukaschenko dagegen klammert sich immer verzweifelter an Moskau. Doch der russische Präsident Wladimir Putin spielt sein eigenes Spiel. Der Kreml will vor allem Zeit gewinnen. Er besteht deshalb auf die von Lukaschenko angeregte Verfassungsreform und vorgezogene Präsidentschaftswahlen per 2022. Bis dahin will der Kreml einen eigenen pro-russischen Kandidaten aufbauen, einen, dem Russland wirklich vertrauen kann.

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