Alle Urteile, auch die erwarteten, müssen erst von konkreten Personen gefällt werden. Im Fall Alexej Nawalnys war es eine Richterin namens Natalia Repnikowa, die am Dienstag um 20.20 Uhr Ortszeit im Saal 635 des Moskauer Stadtgerichts entschied, dass der russische Politiker für dreieinhalb Jahre hinter Gitter muss. Real heißt das, dass ihn zweieinhalb Jahre Haft erwarten, da er im Zusammenhang mit dieser Strafsache bereits fast ein Jahr im Hausarrest verbrachte.
Hätte Richterin Repnikowa anders entschieden, wäre es eine Sensation gewesen. So aber stimmte das Gericht mit der Staatsanwaltschaft überein, die ihrerseits die Strafvollzugsbehörde in ihrer Forderung unterstützt hatte, Nawalnys bereits abgelaufene Bewährungsstrafe in eine Freiheitsstrafe umzuwandeln. Es war eine Entscheidung, die auch den Kreml zufriedengestellt haben dürfte. Seine Machtvertikale funktionierte gestern reibungslos, wenn auch nicht besonders überzeugend.
Bis zuletzt hatten Nawalnys Anhänger auf eine Freilassung gehofft. Doch zu wichtig ist die Sache für den Kreml. Zu groß sind die Verrenkungen, die der Staatsapparat bisher angestellt hat, um Wladimir Putins kompromisslosesten Kritiker hinter Gitter zu bekommen. Nawalny selbst nannte den Fall „fabriziert“.
Behörden verärgert wegen Prozessbeobachter
Tatsächlich ist die Argumentation der Behörden in der Causa sehr fragwürdig. Die Strafvollzugsbehörde hat den sogenannten „Yves-Rocher-Fall“ von 2014 neu aufgerollt. Damals warf die russische Justiz Alexej und seinem Bruder Oleg Nawalny Betrug und Geldwäsche in ihrer Zusammenarbeit mit der Kosmetikfirma Yves Rocher vor. Oleg verbüßte dreieinhalb Jahre Haft, Alexej erhielt eine mehrjährige Bewährungsstrafe. Yves Rocher sieht sich durch die Nawalnys nicht geschädigt.
Auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) fand in dem Fall Nawalnys Recht auf ein faires Verfahren verletzt, was Russland als Mitglied des Europarates zur Revision verpflichtete. Moskau zahlte Nawalny finanzielle Entschädigung, wiederholte kurzerhand den Prozess im Jahr 2018 und hielt das Urteil aufrecht. Nawalnys Bewährungsstrafe lief Ende 2020 aus. Die Strafvollzugsbehörde schrieb ihn kurz davor zur Fahndung aus – mit der Begründung, er habe sich nicht den Auflagen entsprechend bei der Behörde gemeldet. Nawalny war damals zur medizinischen Behandlung in Deutschland, nachdem er nach einem Nowitschok-Attentat im Sommer fast gestorben wäre. Die von seinen Verteidigern vorgelegten Dokumente über die zeitliche Dauer der medizinischen Behandlung waren für das Gericht offenbar nicht relevant.
Jemand wollte, dass ich ab dem Moment des Grenzübertritts festgenommen werde. Der Grund dafür: Hass und Angst eines Menschen, der im Bunker lebt. Ich habe ihm eine tödliche Kränkung zugefügt, indem ich (das Attentat, Anm.) überlebt habe.
In einer flammenden Verteidigungsrede betonte Nawalny, dass er auf Geheiß von Präsident Putin zu Unrecht verfolgt werde. „Jemand wollte, dass ich ab dem Moment des Grenzübertritts festgenommen werde. Der Grund dafür: Hass und Angst eines Menschen, der im Bunker lebt. Ich habe ihm eine tödliche Kränkung zugefügt, indem ich (das Attentat, Anm.) überlebt habe.“ Putin werde, so Nawalny, als „Wladimir der Unterhosenvergifter“ in die Geschichte eingehen.
Dass neben Reportern auch fast zwei Dutzend ausländische Diplomaten im Gerichtssaal saßen, ärgerte die Behörden. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, echauffierte sich über „Einmischung in innere Angelegenheiten Russlands“ und den angeblichen „psychologischen Druck“ auf die Richterin durch die diplomatische Präsenz. Prozessbeobachtung ist eine verbreitete Praxis.
Führung hat Etappenziel erreicht
Wie eine unantastbare Festung war das Moskauer Stadtgericht – ein klobiges, mit beigen Kacheln überzogenes Gebäude – vom Morgen an abgeriegelt gewesen. Wie schon bei den jüngsten Protesten zeigten die Sicherheitskräfte sehr große Präsenz. Bis in die Abendstunden zählte man mehr als 300 Festgenommene. Auch Journalisten waren der ruppigen Behandlung durch Sicherheitskräfte ausgesetzt. Die massive Polizei-Präsenz sollte verhindern, dass die Opposition den Gerichtstermin für eine Unterstützungskundgebung nutzte. Das betont martialische Auftreten und die zunehmende Willkür des Sicherheitsapparats wecken freilich auch die Assoziation eines Polizeistaats, in dem jede Regung unterbunden wird.
Mit der Verurteilung des Politikers hat der Kreml ein aus seiner Sicht wichtiges Etappenziel erreicht: Nawalny ist „neutralisiert“. In der Strafkolonie wird er ständig kontrolliert und ist in seiner Kommunikation eingeschränkt. Seine Bedeutung als moralische Instanz könnte freilich wachsen.
Zudem sehen die Behörden nun die Chance gekommen, auch Nawalnys Strukturen – sein regionales Netzwerk und seine auf Enthüllungen spezialisierte Anti-Korruptions-Stiftung – zu zerschlagen. Gerade vor dem Hintergrund der Duma-Wahl im September, für die der Oppositionär eine den Kreml schwächende Wahlstrategie vorbereitete, scheint das wichtig. Nawalnys Anhänger verlieren also eine wichtige Identifikationsfigur. Die Organisation des 44-Jährigen stark auf seine Person zugeschnitten. Seinen Platz kann derzeit niemand einnehmen. Auf längere Sicht ist freilich möglich, dass eine neue Oppositions-Persönlichkeit auftaucht. Die ökonomische Krise dauert an, die soziale Unzufriedenheit ist groß, Putin-Müdigkeit ist spürbar: Aufgaben für alternative Kräfte gäbe es genug. Auch der Kreml wird gezwungen sein, auf diese Herausforderungen in irgendeiner Weise zu reagieren. Sie lösen sich nicht in Luft auf, selbst wenn Nawalny im Gefängnis ist.
Das Straflager ist ein „sehr unsicherer Ort“
Russische Beobachter gehen davon aus, dass die Gefängnis-Option bald nach Nawalnys Rückkehr-Ankündigung gefällt wurde. Marina Litwinowitsch von der Gesellschaftlichen Beobachtungskommission, die das Strafvollzugssystem beobachtet, sagte dem TV-Kanal „Doschd“: „Klar ist das alles von oben koordiniert. Bedingungen werden extra geschaffen, um ihn möglichst lange von Gesellschaft und Politik fernzuhalten.“ Für eine Person wie Nawalny sei das Straflager ein „sehr unsicherer Ort, was Gesundheit und Leben angeht“. Litwinowitsch erinnerte in diesem Zusammenhang an das Giftattentat gegen den 44-Jährigen – und warnte vor der Gefahr eines denkbaren „Unglücks“ in dem von außen abgeschotteten Ort. Straflager in Russland befinden sich meist sehr weit von Moskau entfernt, etwa im dünn besiedelten hohen Norden oder in entlegenen Gegenden Sibiriens.
Für Nawalny persönlich rückte mit dem gestrigen Entscheid auch der Abschied von seiner Familie näher. Er zeigte wie gewohnt Haltung. Angesichts des wiederholten Demo-Besuchs seiner Frau Julia am vergangenen Wochenende sprach er ihr Mut zu: „Sie haben dich im TV in meiner Zelle gezeigt und gesagt, du seist Wiederholungstäterin. Ich bin stolz auf dich.“
 
		    		 De Maart
                    De Maart
                 
                               
                           
                           
                           
                           
                           
                          
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können