Auch in der Epidemie zieht der Stimmenstreit die Bewohner von Europas Armenhaus in seinen Bann. Ob mit Masken vor den Gesichtern, unter den Kinnladen oder ganz ohne Corona-Ausrüstung: Zehntausende pilgern vor Kosovos vorgezogenen Parlamentswahlen am Sonntag zu den Kundgebungen der Stimmenjäger. In Kosovos Wahlkampf scheine die Pandemie „eine Pause eingelegt“ zu haben, klagt in Pristina die Analystin Jeta Krasniqi gegenüber dem Tageblatt: „Für ein paar Stimmen mehr scheinen die Parteien alle bereit, die Präventivmaßnahmen zu brechen.“
Frenetisch skandieren die Teilnehmer der Wahlkampfaufmärsche der linksnationalen Vetevendosje (VV) – „Selbstbestimmung“ – landauf landab den Namen ihres Hoffnungsträgers: „Albin Kurti!“ Tatsächlich steht der im letzten Jahr vom Koalitionspartner LDK und mit tatkräftiger US-Unterstützung schon nach 52 Tagen aus dem Amt gehebelte Ex-Premier vor einem Blitz-Comeback. Alle der ansonsten stark voneinander abweichenden Umfragen sagen seiner VV einen klaren Wahlsieg von 40 bis zu 51 Prozent der Stimmen voraus.
Urteil gegen Kurti mobilisiert seine Anhänger
Mit einer „Kombination des Wählerwunschs nach Wandel und der Enttäuschung über die etablierten Parteien“, erklärt Analystin Krasniqi die erwarteten Zugewinne der VV. Viele frühere LDK-Wähler, die über den frühen Bruch der Koalition mit Kurti enttäuscht gewesen seien, dürften dieses Mal für die VV stimmen. Deren Zugewinne seien aber nicht nur mit der Kandidatur der früheren LDK-Spitzenkandidatin und derzeitigen Parlamentsvorsitzenden Vlosa Osmani auf der VV-Liste zu erklären: „Mehr als 100.000 Wähler in der Diaspora haben sich neu registrieren lassen. Die meisten werden wohl für die VV stimmen.“
Mit dem 45-jährigen Kurti wird der Vorgänger von Kosovos Noch-Premier Avdullah Hoti (LDK) vermutlich auch dessen Nachfolger sein. Von einer „historischen Chance einer sauberen Regierung“ ohne Korruption spricht der einstige Studentenführer, der auf 61 der 120 Mandate und eine alleinige VV-Regierung hofft. Dass das Verfassungsgericht ihm wegen einer Bewährungsstrafe den Wahlantritt untersagt hat, hat auf seine Premier-Ambitionen keinen Einfluss – und scheint seine Anhänger nur noch stärker zu mobilisieren. „Das Urteil scheint der VV eher zu nützen als zu schaden“, sagt Krasniqi.
Auch wenn die VV tatsächlich über die Hälfte der Stimmen einfahren sollte, ist ihr die anvisierte Alleinregierung keineswegs gewiss. Denn 20 der 120 Parlamentssitze sind den Minderheiten vorbehalten – die Hälfte davon hält derzeit die von Belgrad gesteuerte „Serbische Liste“ (SL). Die SL bemühe sich, auch die den anderen Minderheiten zufallenden Mandate unter ihre Kontrolle zu bringen, indem sie ihre Wähler auffordere, für ihr genehme Kandidaten der anderen Ethnien zu stimmen, berichtet Krasniqi: „Sollte die Taktik aufgehen, könnte Serbien seine Blockademacht in Kosovos Parlament verstärken.“
Drei gescheiterte Regierungen in einem Jahr
Drei Regierungen sind in Kosovo im letzten Jahr vorzeitig gescheitert. Und ob ein zweites Kabinett Kurti das Land in ruhigere Gewässer lotsen kann, ist eher ungewiss. Ob der völlig festgefahrene Dialog mit Serbien oder der von Belgrad blockierte UN-Beitritt, ob die nie verwirklichte EU-Zusage der Aufhebung der Visapflicht, ob Armut, Korruption, Perspektiv- und Arbeitslosigkeit: Die Probleme und Baustellen des Staatenneulings sind zahlreich, die Erwartungen der Wähler an die neue Regierung gleichzeitig unrealistisch groß.
Selbst nach dem erwarteten Erdrutschsieg seiner VV könnte sich die Machtübernahme für Kurti komplizieren. Falls die VV die Parlamentsmehrheit verfehlen sollte, könnte Kurti zwar einen Teil der Minderheitsparteien oder die AAK von Ex-Premier Ramush Haradinaj ins Koalitionsboot holen. Zum frühen Stolperstein bei seinem zweiten Premier-Anlauf könnte jedoch die anstehende Neubesetzung des Präsidentenamts werden.
Seit dem Abtritt des vor dem Kosovo-Sondergericht in Den Haag wegen Kriegsverbrechen angeklagten Ex-Präsidenten Hashim Thaci im November übt die Parlamentsvorsitzende Osmani das Amt geschäftsführend aus. Spätestens nach einem halben Jahr muss sich das Parlament aber laut Verfassung mit einer Zweidrittelmehrheit auf die Wahl eines neuen Staatschef verständigen.
Als Kompromisseschmied gilt Solist Kurti keineswegs. Und ob er sich mit dem Erzfeind PDK oder Ex-Partner LDK bis zum 6. Mai auf einen neuen Präsidenten einigen kann, ist ungewiss. Die Haltbarkeitsdauer des künftigen Kabinetts werde nicht zuletzt von der Präsidentenwahl abhängen, sagt Krasniqi: „Scheitert die Lösung der Präsidentenfrage, werden wir bald wieder wählen gehen.“
 
		    		 De Maart
                    De Maart
                 
                               
                           
                           
                           
                           
                           
                          
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können