Industrialisierung macht noch heute Angst

Industrialisierung macht noch heute Angst

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Menschen aus früheren Kohleregionen sind ängstlicher und unzufriedener als Bewohner anderer Gebiete. Zu diesem Ergebnis kommt eine britische Studie.

Menschen aus früheren Kohleregionen sind ängstlicher und unzufriedener als Bewohner anderer Gebiete. Zu diesem Ergebnis kommt eine britische Studie. Als Ursache wird die Vererbung depressiver Merkmale seit der Massenindustrialisierung gesehen.

Von Elke Bunge

Es ist die umfassendste Studie zu den Auswirkungen der industriellen Revolution auf Generationen von Menschen. Ein internationales Psychologenteam unter Führung der Universität von Cambridge hat sie durchgeführt. Die Wissenschaftler befragten 400.000 Menschen zu ihrer persönlichen gesundheitlichen und emotionalen Situation. Die in der Fachzeitschrift „Journal of Personality and Social Psychology“ veröffentlichte Studie zeigt erstaunliche, aber auch bedrückende Erkenntnisse: Menschen, die in den ehemaligen industriellen Kerngebieten Englands und Wales leben, zeigen deutlich negative psychische Merkmale wie Angst, Unruhezustände und Depressionen.

Angst im Schatten der Kohle

„Wir haben regionale Muster der Persönlichkeiten und des Stands des Wohlbefindens gefunden, die ihre Ursachen in den Jahrzehnten der industriellen Revolution von vor 200 Jahren haben“, fasst der Ko-Autor der Studie, Jason Rentfrow von der Psychologischen Klinik der University of Cambridge, die Ergebnisse der Studie zusammen. Die Menschen in den untersuchten Zechen- und Stahlregionen der britischen Insel zeigen ein höheres Potenzial an Ängstlichkeit, Depression, psychischer Labilität und auch Aggressivität. An der Studie nahmen Psychologen aus Großbritannien, den USA und aus Deutschland teil. Die in England und Wales erhobenen Werte wurden von den US-Wissenschaftlern für die Bergbau- und Stahlregionen in Nordamerika durch „robuste Studien“ bestätigt.

Die Wissenschaftler untersuchten bei ihren Befragungen die „großen fünf“ Persönlichkeitseigenschaften: Extraversion, Verträglichkeit, Pflichtgefühl, Neurotizismus und Offenheit. Zudem wurden Faktoren wie Altruismus und Neigung zu Angststörungen in die Untersuchungen einbezogen. Die Resultate waren deutlich. 33 Prozent mehr Menschen als im übrigen Land leiden in den Kohleregionen an Neurotizismus, der labilen Persönlichkeitsstörung. 31 Prozent mehr leiden an Angststörungen und Depressionen. Um 29 Prozent geringer als in den Nichtindustriezonen ist die Rate der Zufriedenheit. 26 Prozent der in diesen Gebieten Lebenden zeigen sich weniger verträglich und mehr streitsüchtig.

Ursachen sind historischer Art

Die Psychologen stellen die These auf, dass die Ursachen für das andere Verhalten der Menschen nicht in der gegenwärtigen Rezession – dem Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie verbunden mit weitreichender Arbeitslosigkeit – zu suchen sind, sondern bereits in den Vorzeiten der industriellen Revolution.
Zu jener Zeit zogen viele Menschen auf der Suche nach Arbeit und auf der Flucht vom Elend in den ländlichen Regionen in die aufstrebenden Industriezonen. Es waren Menschen, die von bereits gemachten schlechten Erfahrungen ängstlich und depressiv waren und diese Eigenschaften untereinander und an die nachfolgenden Generationen weitergereicht haben. Schwere Kinderarbeit, schlechte Lebensbedingungen in überfüllten Wohnsiedlungen sowie mangelnde Gesundheitsvorsorge hätten über die Jahrhunderte die Lage noch verschärft, so die Psychologen.

Ergebnisse können für Zukunft helfen

Die Wissenschaftler schlossen die aktuelle Lage als Einfluss deshalb aus, weil von den Persönlichkeitsstörungen auch Menschen betroffen sind, die in keiner akuten Notlage angetroffen wurden. „Unsere Studie kann den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft vielleicht wichtige Hinweisen geben, wie künftig soziale Probleme bei der Weiterentwicklung von Industrie berücksichtigt werden sollte“, erklärt Michael Stützer von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Ko-Autor der Studie. Dabei sollten auch erkannte positive Effekte wie eine hohe Bereitschaft zur Solidarisierung und das Engagement in Arbeiterbewegungen einberechnet werden.