Nordirlands Geister der Vergangenheit

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Am Karfreitag vor 20 Jahren wurde der Friedensvertrag in Nordirland geschlossen. Er sollte ein Ende setzen unter die Zeit der "Troubles", die mehr als 3.500 Tote forderten. Das ging lange gut. Dann kam der Brexit. ► Eine Reportage aus unserem Archiv

Am Karfreitag vor 20 Jahren wurde der Friedensvertrag in Nordirland geschlossen. Er sollte ein Ende setzen unter die Zeit der „Troubles“, die mehr als 3.500 Tote forderten. Das ging lange gut. Dann kam der Brexit. ► Eine Reportage aus unserem Archiv

Peters Black Cab ist extra für Besucher hergerichtet. Der sympathische Mittvierziger verdient sein Geld mit Taxifahrten zu den Touristen-Hotspots seiner Stadt. In Belfast sind das Zeugen eines auf dem Kontinent fast schon vergessenen Konflikts. Die Tour führt zur Shankill Road, durch den Cupar Way, der von einer der 41 Belfaster „Peace Walls“ genannten Trennmauern flankiert wird, hinüber in die Falls Road. Zu sehen gibt es die Wandmalereien der alten Kriegsparteien, die mit diesen „Murals“ ihre Geschichte erzählen.

Bis 1998 das Karfreitagsabkommen den Nordirlandkonflikt beendete, waren die republikanisch-katholischen und die unionistisch-protestantischen Viertel für die jeweils andere Seite No-Go-Areas – außer man fuhr rüber, um zu provozieren, Bomben zu legen, Leute zu erschießen. Mehr als 3.500 Menschen kamen in dem Konflikt ums Leben. Heute gehören die beiden Roads zum Pflichtprogramm jedes Belfast-Touristen. Doch was wie Geschichte wirkt, schwelte immer weiter.

Man lebt nebeneinander her

In Nordirland gehen 90 Prozent der Kinder der Katholiken und der Protestanten in getrennte Schulen. Ihre Väter trinken in ihren jeweils eigenen Pubs. Das alles hat irgendwie funktioniert in den vergangenen 18 Jahren. Die Europäische Union hat Millionen in den Friedenprozess gesteckt. Katholische Republikaner, die eine Vereinigung mit dem Süden wollen, und protestantische Unionisten, die der britischen Krone die Treue schwören, bringen sich nicht mehr gegenseitig um. Man lebt nebeneinander her.

Dann kam etwas, mit dem in Nordirland kaum einer gerechnet hat und das von 55 Prozent der Menschen hier abgelehnt wurde: In ihrer Gesamtheit stimmten die Briten am 23. Juni dieses Jahres mehrheitlich für den Brexit – und in Belfast und Grenzstädten wie Derry oder Newry war plötzlich nichts mehr wie zuvor. Hier gilt die Unsicherheit nicht nur der Wirtschaft. Hier geht es um Frieden. Oder eben Krieg, je nachdem, wen man fragt. Taxifahrer Peter ist auch Monate nach dem Brexit-Votum „entsetzt, es ist das erste Mal, dass wir uns alle einig waren: Das ist nicht gut für uns!“

Der Brexit-Schock

Tritt das Vereinigte Königreich tatsächlich aus der EU aus, wird die rund 500 Kilometer lange Grenze mit der Republik Irland im Süden zur EU-Außengrenze. Damit könnten wieder Grenzposten im Niemandsland errichtet werden, das als Grenze nicht mehr zu erkennen ist. Iren und Briten und Schotten haben ein Abkommen, die Common Travel Area, sie sind alle nicht im Schengenraum, können sich aber über ihre Grenzen hinweg frei bewegen. Kommt es zum harten Brexit, könnte eine Grenze wieder auferstehen, die fast schon vergessen war – und mit ihr ein Konflikt, dessen Zentrum zum Ausflugsziel für Touristen geworden ist.

„Der Gedanke nach einer harten Grenze füttert die Angst vor Konflikten“, sagt auch John O’Dowd, der für die irisch-nationalistische Sinn Féin in Stormont, dem nordirischen Parlament, sitzt. Seit 2006 teilen sich dort die Sinn Féin und die unionistische Democratic Ulster Party (DUP) die Macht – und verwalten so den Friedensprozess.

 

John Fitzgerald, der nicht die Art Mann ist, die zur Übertreibung neigt,
findet das „ein riesiges Problem“.

Makroökonom Dr. John Fitzgerald von der Universität Dublin über den Brexit

 

O’Dowds Partei – Sinn Féin heißt „Wir selbst“ – hat als offizielles Ziel, das Land in die Republik Irland zurückzuführen und gilt als politischer Arm der Provisional IRA. „Der Brexit ist der wichtigste Moment in Irland seit der Teilung des Landes 1921“, sagt O’Dowd im etwas auswärts von Belfast gelegenen Stormont, „es ist ein völlig neues Szenario.“ Nur drei Stunden sind es von Belfast nach Dublin. Dort, im Trinity College, werden die Sorgen geteilt.

Makroökonom Dr. John Fitzgerald befürchtet, dass Großbritannien wieder Personenkontrollen an der Grenze zu Irland einführen könnte. „Verlassen die Briten die Zollunion“, sagt Fitzgerald, „dann gelten die Kontrollen auch für Waren.“ Und dann gebe es sicher wieder Grenzposten. „Wenn sie nun wieder zurückkommen, dann wächst der Druck auf jene, die dem Terrorismus eigentlich den Rücken gekehrt haben.“ Fitzgerald, der nicht die Art Mann ist, die zur Übertreibung neigt, findet das „ein riesiges Problem“.

Es ist und bleibt eine Frage der Identität

Die EU-Mitgliedschaft Nordirlands und der Republik Irland hat den Austausch zwischen beiden Ländern erleichtert. Der Bürgerkrieg ist zu Ende, es gibt kaum noch Anschläge oder Schießereien. Straßensperren und gepanzerte Polizeiautos sind im Belfaster Stadtbild kaum mehr zu sehen. Nur während der Marschsaison zu Ostern und in den Sommermonaten wird sichtbar, wie weit Nordirland vom ersehnten Frieden entfernt ist. Es ist und bleibt eine Frage der Identität, eine Frage, die fast überkommen wurde, die der Brexit aber wieder in die Köpfe spült. Im Norden dreht sich wieder alles um Identität. Wir und die. Katholiken und Protestanten.

 

Eines der „Murals“ an der Falls Road: Sowohl Katholiken wie Protestanten schmücken ihre Häuser mit Bildern, die die Vergangenheit wachhalten

 

Stephen Farry von der liberalen Alliance Party, die in Nordirland in der Opposition ist und gegen den Brexit war, erklärt den Unterschied und das Problem mit dem Rückfall auf die alten Identitäten. Seit dem Karfreitagsabkommen hätten die Nordiren angefangen, sich „ein bisschen britisch, irisch, nordirisch, auch etwas europäisch“ zu fühlen. Nun spürt auch Farry eine Wende zum Schlechten, zur alten Gegenüberstellung von „britisch, unionistisch, protestantisch versus irisch, katholisch, nationalistisch“.

Einer bleibt gelassen

„The Spaniard“ ist eines der nettesten Pubs in Belfast. Ab und zu hängen hier auch die Darsteller aus der Serie „Game of Thrones“ in ihren Drehpausen ab. Heute sind John Snow und die anderen nicht da. Dafür hat es sich Derek an einem der Tische bei einem Pint und einer Tüte Chips gemütlich gemacht. Derek ist Ire, Mitte 40, hat viel von der Welt gesehen. Als Wissenschaftler hat es ihn hierhin in den Norden verschlagen.

Auch Derek versteht die Welt nicht mehr so recht nach dem Brexit-Votum. Nimmt es aber mit Humor, obwohl er bereits erste finanzielle Einbußen spürt. Ein neuer Konflikt, um die Insel zu vereinen? „Ach was“, lacht er, „the romanticism is gone“ – die ganze Romantik sei doch raus aus der Sache. Die republikanischen Dissidenten findeter nur noch lächerlich. „Die spinnen doch“, sagt er, bei der letzten Gay Parade hätten sie dagestanden und gebuht. „Allen Ernstes! An dem Umzug nehmen mittlerweile Familien mit ihren Kindern teil.“ Die Dissidenten haben sich offensichtlich immer mehr von der Mitte der Gesellschaft entfernt.

 

„Die Dissidenten wollten den Brexit mehr als Boris Johnson

Anthony McIntyre, Ex-IRA-Mann, nun Historiker und Journalist

Zurück in Dublin, im ärmeren industriellen Norden der stark von der Finanzindustrie geprägten Stadt, in einem Backsteinhaus auf einer Ausfallstraße sitzt die Gewerkschaft, für die Anthony McIntyre arbeitet, unentgeltlich. Gewartet wird unter einem Che-Guevara-Poster. Anthony ist ex IRAler, hat 18 Jahre im Gefängnis verbracht. Mit dem Karfreitagsabkommen hat er die republikanische Bewegung verlassen.

Im Gefängnis hat er studiert, mittlerweile hat er einen Doktortitel, er ist jetzt Journalist. In schwarzem Trainingsanzug und mit schwarzer Kappe sitzt Anthony vor einem. Er teilt die Sorgen einer neuen Eskalation nicht. „Die Wahrscheinlichkeit, dass die Leute wieder kämpfen, ist geringer, als dass Afroamerikaner zurück nach Afrika gehen“, sagt er etwa. Und: „Schließlich haben die Dissidenten ja für den Brexit gestimmt. Die wollten ihn noch mehr als Boris Johnson.“ Alles werde bleiben, wie es ist. Es werde keine gemischten Schulen geben. Genauso wenig wie die Mauern wegkommen werden, sagt er.

Kommt es so, wie Anthony das sieht, ist das auch für Peter gut. Er und seine Taxifahrer-Kollegen werden ihre Touren weiterhin anbieten können. Und das arme Nordirland ist mit dem Brexit wirtschaftlich schon gestraft genug. Eine neue Gewaltwelle ist wohl das Letzte, was die Menschen hier gebrauchen können.