Wirklich zwei Seiten derselben Medaille?

Wirklich zwei Seiten derselben Medaille?
(Alain Rischard/editpress)

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Am 7. Juni sind die luxemburgischen Staatsbürger mit einer großen Verantwortung ausgestattet. Sie entscheiden darüber, ob Luxemburg die erste minoritäre Demokratie der Welt sein wird oder nicht.

Seit zwei Monaten werden falsche Informationen und Halbwahrheiten unters Volk gestreut und wird mit den Ängsten der Luxemburger gespielt. Die meisten Argumente, die für das Nein bei der Frage zum aktiven Wahlrecht ausländischer Einwohner, die bereits seit zehn Jahren in Luxemburg gewohnt und an Wahlen teilgenommen haben, ins Feld geführt werden, haben wenig oder gar nichts mit der Referendumsfrage an sich zu tun.

Die Referendumsfrage betrifft nicht die Nation, die Souveränität, die Identität, die Sprache. Sie betrifft nur die Frage der demokratischen Vertretung und Partizipation. Die Frage also, wen die Parlamentarier der Verfassung nach vertreten und ob alle Vertretenen das Recht haben, ihre Vertreter zu wählen. Fast 50% der Vertretenen haben es nicht.
Jeder, der mit Nein stimmen wird, hat sicherlich seine Gründe: die einen wollen vielleicht die Regierung abstrafen, für Dinge, die mit dem Referendum nichts zu tun haben; andere haben emotionale Beweggründe, die mit ihrer persönlichen Geschichte zu tun haben; andere wiederum machen sich Argumente zu eigen, die nicht unbedingt stichhaltig sind. Jeder hat natürlich das Recht auf seine Meinung, aber wenn diese auf falschen oder falsch verstandenen Informationen beruht, müsste es ja möglich sein, die Meinung noch zu ändern.

Nach eingehender Analyse der von den Promotoren des Nein angeführten Argumente bleibt eigentlich nur ein einziges übrig, das Hauptargument aller Nein-Sager: für die Nationalwahlen sind „Wahlrecht“ und „Nationalität“ untrennbar miteinander verbunden; wer wählen möchte, sollte die Staatsbürgerschaft beantragen. In diesem Zusammenhang begegnet man auch oft der Behauptung: „das gibt es in keinem anderen europäischen Land“.
In diesem Beitrag sollen diese Behauptungen nun auch noch entkräftet werden.

Großbritannien als Gegenbeispiel

In der Europäischen Union sind Wahlrecht und Nationalität bereits weitgehend entkoppelt, d.h. das Wohnland ist ausschlaggebend dafür, in welcher Gemeinde ein Unionsbürger seine Stimme abgeben kann. Auch darf er/sie für die Kandidaten und Kandidatinnen seines Wohnlandes bei den Europawahlen wählen und sich bei beiden Wahlen auch der Wahl in seinem Wohnland stellen. Wir haben also in der EU bereits ein Mischsystem aus Einwohnerwahlrecht und nationalitätsgebundenem Wahlrecht, wobei Letzteres nur noch die Nationalwahlen betrifft.

In Luxemburg haben wir außerdem noch allen Nicht-EU-Einwohnern, unabhängig von Nationalität, das Wahlrecht auf Gemeindeebene gegeben. Hauptbedingung: seit fünf Jahren in Luxemburg gewohnt zu haben.
Die Beispiele Republik Irland und Großbritannien zeigen aber, dass es auch ein nationales Wahlrecht geben kann, das an die Residenz gebunden ist.

Ein irischer Bürger, der auswandert, hat sofort nachdem er seinen Wohnsitz in Irland aufgegeben hat, in Irland kein Wahlrecht mehr. Er hat also auch nicht mehr die Möglichkeit, per Briefwahl an Wahlen teilzunehmen. Das heißt, dass Irland für seine Staatsbürger ein striktes residenz-basiertes Wahlrecht hat.
Andererseits hat ein Bürger Großbritanniens, der in Irland wohnt, das Wahlrecht für die Parlamentswahlen in Irland und behält auch dieses Recht in seinem eigenen Land während 15 Jahren. Nach 15 Jahren Aufenthalt im Ausland verliert jeder britische Staatsbürger sein Wahlrecht in seinem Herkunftsland.

Ganz besonders interessant am britischen Beispiel ist die Tatsache, dass in Großbritannien die Bürger von 56 verschiedenen Nationen das Wahlrecht auf allen politischen Ebenen haben, auch bei den Nationalwahlen, vorausgesetzt, ihre Residenzpapiere sind in Ordnung. Es handelt sich dabei um die Staatsbürger der 53 Commonwealth-Länder, (Großbritannien, Indien, Australien, Kanada, usw.), die insgesamt 2,2 Milliarden Menschen darstellen. Dazu kommen noch die Bürger der zwei Ex-Commonwealth-Länder Fidschi-Inseln und Simbabwe, sowie die Bürger der Republik Irland.

Zu dieser Gruppe von 56 Ländern gehören also vier EU-Staaten: Großbritannien, Irland, Malta und Zypern. Jetzt werden die Nein-Sager kontern mit historischen und anderen irrelevanten Erklärungen. Das Beispiel wird nur angeführt, um zu beweisen, dass es falsch ist zu behaupten: 1. dass es ein Wahlrecht für ausländische Einwohner auf nationaler Ebene nirgendwo in Europa gibt und 2. dass das Wahlrecht für nationale Wahlen zwingend für Staatsbürger reserviert sein muss . Schließlich soll uns noch das Beispiel Schottland eine echte Lektion in demokratischer Partizipation und in Sachen Einwohnerwahlrecht geben.

Großbritannien besteht aus den drei Nationen: England, Schottland und Wales sowie der Provinz Nordirland.
Am 18. September 2014 hielt die Nation Schottland ein Unabhängigkeits-Referendum ab, das darüber entschied, ob Schottland Teil von Großbritannien bleiben sollte oder nicht. Dies war also eine sehr wichtige Entscheidung. Wahlberechtigt waren alle Einwohner Schottlands ab dem Alter von 16 Jahren, die mindesten seit 17 Tagen (!) in Schottland als Einwohner angemeldet waren und die entweder Bürger Großbritanniens oder eines der anderen Commonwealth-Länder oder eines EU-Staates waren! Also konnten Einwohner von insgesamt 80 verschiedenen Nationalitäten über die Unabhängigkeit Schottlands entscheiden. Wenn das kein Beispiel von Offenheit und Demokratieverständnis ist!

Neuer Pass, um wählen zu dürfen?

Wir in Luxemburg hingegen, die wir uns im Ausland als multinationales, vielsprachiges, tolerantes und offenes Land darstellen, sind heute der Versuchung nahe, uns auf unser „Stockluxemburgertum“ zurückzuziehen und unseren ausländischen Mitbürgern den Zugang zur demokratischen Partizipation zu verwehren. Mit der fadenscheinigen und faktisch falschen Begründung das Wahlrecht auf nationaler Ebene sei ausschließlich an die Staatsbürgerschaft gebunden.

Die Hauptgegner des Einwohnerwahlrechts CSV, CGFP und ADR behaupten dies. Die CSV gibt zu, dass Luxemburg ein Problem demokratischer Partizipation hat, das sich durch die sich ständig vergrößernde Kluft zwischen Einwohnerzahl und Zahl der Wahlberechtigten darstellen lässt. Sie behauptet, dieses Problem könne durch eine Auflockerung der Naturalisationsbedingungen und durch eine Erweiterung des Geburtsortsprinzips (jus soli) beseitigt werden. Alle Berechnungen zeigen allerdings, dass dies unmöglich ist, da die jährliche Nettoeinwanderung mehr als doppelt so hoch ist wie die Zahl der Naturalisierungen. Sogar bei einer steigenden Zahl an Naturalisierungen wird es kaum möglich sein, diesen Trend umzukehren.

Außerdem stellt sich die Frage, was die Beweggründe sind, warum jemand die luxemburgische Staatsbürgerschaft beantragt. Hier spielen sicherlich viele Faktoren mit. Z.B. versprechen sich Menschen aus Nicht-EU-Staaten, insbesondere aus dem Balkan, Asien, Südamerika und Afrika eine größere Freizügigkeit beim Reisen innerhalb und außerhalb Europas. Aber welche Vorteile würden sich EU-Bürger von der Annahme einer zweiten EU-Bürgerschaft erwarten? Glauben die Promotoren dieser Lösung im Ernst daran, dass sich jemand naturalisieren lässt, nur um alle fünf Jahre an Wahlen teilnehmen zu können? Das scheint eine naive Annahme zu sein, um nicht zu sagen ein Versuch, die Bürger für dumm zu verkaufen.

Um das Demokratiedefizit nachhaltig zu reduzieren, müssten wir von drei Enden her die Wählerschaft mit neuen Wählern speisen: über die Vereinfachung der Naturalisierung, über das Wahlrecht ausländischer Bürger und über das fakultative Wahlrecht der 16- und 17-Jährigen. Dies würde auch helfen, die Wählerschaft zu verjüngen (derzeitiges Durchschnittsalter: 52 Jahre!). Wenn Luxemburg eine repräsentative Demokratie bleiben und nicht zu einer „Diktatur der Staatsbürger“ verkommen will, dann müssen wir über unseren Schatten springen und den anvisierten ausländischen Bürgern, die bereits zur Wählerschaft auf kommunaler bzw. europäischer Ebene gehören, den Zugang zu den Parlamentswahlen ermöglichen.

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