Tag der seltenen ErkrankungenTrotzdem im Leben stehen wollen: Noémie Sunnen lebt mit ALS

Tag der seltenen Erkrankungen / Trotzdem im Leben stehen wollen: Noémie Sunnen lebt mit ALS
Noémie Sunnen (46) lebt mit amyotropher Lateralsklerose, kurz ALS  Foto: Editpress/Alain Rischard

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Brad Pitt, Lady Gaga, Selena Gomez oder Morgan Freeman: Sie alle leben mit einer seltenen Krankheit. Wie es der Name suggeriert, sind sie wenig erforscht und es gibt kaum Medikamente. Den Betroffenen begegnen viele Vorurteile – ganz zu schweigen von der Unsicherheit, mit der sie angesichts eines oft unerforschten Verlaufs leben. Am 29. Februar ist der Internationale Tag der seltenen Krankheiten. 

Als die Krankheit bei ihr ausbricht, ist Noémie Sunnen gerade mal 36 Jahre alt. Die vierfache Mutter unterrichtet zu dem Zeitpunkt Zehn- bis Zwölfjährige in Französisch und Musik am Schengen-Lyzeum in Perl. Plötzlich kann der rechte Fuß nicht mehr im Takt mitwippen. Später wird der linke Fuß es ihm gleichtun. Arme, Schultern und Nacken folgen.

Die Gliedmaßen ermüden schnell, sie selbst spürt die Kraftlosigkeit und gleichzeitige Steifheit und fragt sich, was mit ihr los ist. Anfangs zwingt Sunnen ihren Körper noch in die Bewegung. Krämpfe und Spastiken folgen, die entsprechenden Gliedmaßen zucken. „Das konnte ich dann nicht mehr ignorieren“, sagt sie. Eine medizinische Odyssee beginnt.

Von Verdacht auf Bandscheibenvorfall bis Schlaganfall hört sie anschließend viele mögliche Ursachen und Diagnosen. Keine trifft zu und es geht nur im Ausschlussverfahren in Richtung einer Gewissheit. „Das war eine sehr belastende Zeit“, sagt sie. Als aus dem Gehstock längst zwei Krücken geworden sind und sie sich irgendwann nur noch mit Rollator bewegen kann, kommt endlich die Diagnose.

Vier Jahre bis zur Diagnose liegen im Durchschnitt 

„Amyotrophe Lateralsklerose“, kurz ALS, ist nicht heilbar. Bei der Krankheit sterben die Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark, die für die Bewegung zuständig sind, nach und nach ab. Das Endstadium ist die vollkommene Lähmung des Körpers. Etwa vier Jahre dauerte es, bis sie endlich ein Wort dafür hat, was mit ihr los ist. Damit liegt sie im Durchschnitt der Patienten mit einer seltenen Krankheit. Das sagen Vertreter der „ALAN – Maladies rares Luxembourg“.

Die ASBL ist im Land die Anlaufstelle für Menschen mit seltenen Krankheiten. „Unser Auftrag ist es, diese Menschen so gut wie möglich zu begleiten, egal wo die Reise hingeht“, sagt Dan Theisen (54), seit 2019 Direktor der ALAN. Über 6.000 seltene Krankheiten sind nach internationalen Angaben bekannt, für 94 Prozent davon gibt es keine Therapie und 72 Prozent aller seltenen Krankheiten sind durch Gendefekte verursacht.

Ein weltweit bekannter und gleichzeitig berühmter Leidensgenosse von Sunnen ist der Astrophysiker Stephen Hawking (1942-2018), der mit der Krankheit 76 Jahre alt wurde. In seiner Autobiografie „Meine kurze Geschichte“ schreibt er 2013: „Meiner Meinung nach sollten sich behinderte Menschen auf die Dinge konzentrieren, die ihnen möglich sind, statt solchen hinterherzutrauern, die ihnen nicht möglich sind.“

Sie lässt sich nicht abhängen

Als hätte er diese Worte für die heute 46-Jährige formuliert, sie sind der Luxemburgerin auf den Leib geschrieben. Sie lebt diesen Rat und sitzt wie das berühmte Beispiel mittlerweile im Rollstuhl. Eine Halskrause stützt ihren Kopf, denn auch dort ist die Muskulatur im Laufe der Zeit schwach geworden. Gerne erzählt sie nicht, was alles nicht klappt, sondern viel lieber davon, was alles noch geht.

Bis zum Rollatorstadium arbeitet Sunnen weiter als Lehrerin und hatte ihr Auto auf Lenkradschaltung umgebaut. Im Haus gibt es zwischenzeitlich einen Aufzug, vom Keller bis zum ersten Stock. Lange noch steht die ausgebildete Opernsängerin und Musiktherapeutin auf der Bühne, singt im „Freischütz“ oder der „Zauberflöte“. Sie dirigiert bis noch vor kurzem einen Kirchenchor und singt im Domchor, der „Maîtrise de la Cathédrale de Luxembourg“.

Daneben singt sie auf „Charity“-Konzerten, unter anderem auch für die ALAN. Sie nutzt ihre Stimme für diejenigen, die keine mehr haben. „Das war mir ein Anliegen“, sagt sie. Den Erlös spendet sie. Als der Rollstuhl unausweichlich wird, nimmt sie es als Herausforderung. Sie ist bei gutem Wetter viel draußen, macht Camping in Südfrankreich, wenn es geht, denn die Wärme tut ihr gut.

Musik hilft: Singen und komponieren

Ihre Chorkollegen in der Kathedrale tragen sie auf die Kirchenempore, damit sie mitsingen kann, und zum Essen hat sie einen mechanischen Helfer, einen sogenannten „Helping Arm“. „Ich kann immer noch ein paar Schritte gehen sowie sprechen, singen, atmen und schlucken“, sagt sie. „Dafür bin ich unendlich dankbar.“ Über allem steht die Frage: wie lange noch?  

Die Krankheit verläuft extrem langsam bei ihr. Autofahren musste sie mittlerweile aufgeben, sie schafft den Schulterblick nicht mehr und ihre Arme sind zu schwach zum Lenken geworden. Sie weicht auf Bus oder Zug aus, um sich von A nach B zu bewegen. Inaktiv zu sein, kommt für sie nicht infrage. Die Krankheit diktiert das Maß. „Ein bisschen Bewegung ist gut, aber nicht zu viel“, sagt sie.

Viermal die Woche hat sie Ergo- oder Physiotherapie, um alle Muskeln in Bewegung zu halten, und nachts braucht sie ein Atemgerät, da ihre Lungenfunktion nachgelassen hat. Wie Stephen Hawking gibt sie der Krankheit nur so viel Raum wie nötig. Ihre Familie tut es ihr gleich. „Wir leben im Hier und Jetzt“, sagt sie. Die Musik hilft. Sie, die Mozart, Mendelssohn und Richard Strauß liebt, hat selbst angefangen zu komponieren und bewegt sich damit in einer Männerdomäne.

Jahrhundertelang war es Frauen nicht erlaubt zu komponieren. Noémie Sunnen begegnet damit ihrer Krankheit. ALS ist von den seltenen Krankheiten die häufigste. Blicke der anderen sind ihr „wurscht“, wie sie sagt, und ihre innere Einstellung ist bewundernswert. „Alle Menschen mit seltenen Krankheiten oder einer Behinderung sollen sich trauen zu zeigen, dass sie trotzdem in der Mitte des Lebens stehen.“ 

Die ALAN und ihre Arbeit

Die ALAN hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1998 sehr professionalisiert. Der Bekanntheitsgrad ist gestiegen und die Anlaufstelle mit mittlerweile zwölf Mitarbeitern erfüllt mehrere Aufgaben. Mittlerweile gibt es einen nationalen Plan für seltene Krankheiten (2018-2023), in den die Asbl. stark involviert ist. Er sieht unter anderem die Analyse des Ist-Zustandes vor, die Analyse von Schwachstellen in Bezug auf breiten Zugang zu Informationen und Expertise, den Zugang zu neuen Medikamenten und enthält den Auftrag, ein nationales Register der seltenen Krankheiten aufzubauen.
Geschätzt rund 30.000 betroffene Patienten gibt es in Luxemburg, das heißt einer von 20. Die Anfragen für psycho-soziale Betreuung an die ALAN steigen. 2019 waren es 398, 2023 waren es schon 669. Die neue Regierung hat im Koalitionsabkommen zugesichert, einen neuen „Plan national“ auflegen zu wollen.
Für 94 Prozent der seltenen Erkrankungen gibt es keine medikamentöse Heilbehandlung. „Man kann lediglich die Symptome behandeln und die Lebensqualität verbessern“, sagt ALAN-Direktor Dan Theisen. Die ALAN fungiert außerdem als Allianz der Vereinigungen, die in Luxemburg die Interessen von Menschen mit seltenen Krankheiten vertreten. Außerdem gibt es eine „Cellule de coordination nationale des maladies rares“, in der Experten des CHL und ALAN sitzen, um die Gesundheitsreise des Patienten so gut wie möglich zu ebnen. Die ALAN hat eine Konvention mit dem Gesundheitsministerium, die einen Teil der Personal- und Funktionskosten deckt. Der Rest des Budgets resultiert aus Spenden.