KolumneSchwarzer September: Petz Lahure über das Massaker von München 1972  

Kolumne / Schwarzer September: Petz Lahure über das Massaker von München 1972  
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Am Montag gedenkt die Welt der elf israelischen Sportler und des deutschen Polizisten, die vor 50 Jahren, am 5. September 1972, beim Überfall auf das israelische Wohnquartier im Olympischen Dorf und beim Massaker von Fürstenfeldbruck ums Leben kamen. Dabei wurden auch fünf arabische Terroristen getötet.

München, Connolly-Straße 31, 4.30 Uhr am Dienstag, den 5. September 1972. Palästinensische Terroristen der Guerilla-Bewegung „Schwarzer September“ steigen im Olympischen Dorf über den unbewachten Zaun und stürmen, mit Maschinenpistolen bewaffnet, den Wohnblock der Israelis. Sie erschießen den 33-jährigen Ringertrainer Moshe Weinberg  und den 31 Jahre alten Gewichtheber Josef Romano. Dann verbarrikadieren sie sich mit neun israelischen Geiseln in der Wohnung und fordern die Freilassung von 200 in Israel inhaftierten Palästinensern.

Schüsse in der Nacht

Auf der gegenüberliegenden Seite, im Haus Nummer 18, werden im selben Augenblick die Luxemburger Delegationsmitglieder François Wies und André Hoffmann von den durch die Nacht peitschenden Schüssen aus dem Schlaf gerissen. Beide fluchen, weil sie glauben, einige Sportler hätten die ganze Nacht durchgefeiert und wären lärmend auf dem Heimweg.

François Wies steht als Erster auf. Er ist Nationaltrainer der Bogenschützen und will an diesem Dienstag sehr früh mit seiner Frau Nelly und seinem Kollegen Marcel Balthasar im Englischen Garten sein. Hier haben die Luxemburger erstmals Gelegenheit, auf den Wettbewerbs-Anlagen zu trainieren. 

In dem Moment, wo das Ehepaar Wies und Marcel Balthasar das Olympische Dorf verlassen, ahnt keiner der drei, was sich im Wohnblock Nr. 31 abgespielt hat. Auch die anderen Luxemburger Athleten, die etwas später aus den Federn steigen, können nichts von den blutigen Geschehnissen im israelischen Lager wissen. Als sie den Wohnblock verlassen wollen, zwingt man sie, Kehrt zu machen. Sie müssen auf das Frühstück verzichten und Quartier in ihren Zimmern beziehen.

Schlimmste Befürchtungen

Die schlimmsten Befürchtungen sind mit einem Male Realität geworden. In München ist genau das eingetreten, was der junge Polizeipsychologe Georg Sieber rund ein Jahr zuvor in einer der von ihm erstellten „möglichen Gefährdungen für die Spiele“ erarbeitet und fein säuberlich niedergeschrieben hat: „Es muss mit Kommandos von Kamikaze gerechnet werden, die ohne Rücksicht auf eigenes oder fremdes Leben vorgehen.“ So als ob er eine Vorahnung hätte, nennt Sieber als Beispiel die Attacke eines PLO-Kommandos, das den Wohnblock der israelischen Delegation besetzt, zwei Sportler tötet und u.a. die Freilassung von Palästinensern aus israelischen Gefängnissen fordert. 

Höheren Orts wird das Szenario, das der junge Mann erarbeitet hat, als unrealistisch abgetan, man solle doch bitte den Teufel nicht an die Wand malen. Deutschland dürfe auf keinen Fall das Bild eines Polizeistaates abgeben oder Erinnerungen an die Spiele von 1936 wecken, so Polizeipräsident Manfred Schreiber. Die Sicherheitskräfte im Olympischen Dorf sollen statt Polizeiuniformen himmelblaue Anzüge mit weißen Hemden tragen und unbewaffnet sein.

Auf die Nacht folgt der Tag

Die Nachricht vom Mord an den zwei israelischen Sportlern und der Geiselnahme im Olympischen Dorf erreicht mich auf dem Nachhauseweg ins Presse-Village. Nach „Schichtschluss“ am Tag vorher hatte ich mich mit einem Journalistenkollegen ins Münchener Nachtleben verabschiedet. Irgendwo gerieten wir in eine bulgarische Goldmedaillenfeier, die Zeit verging wie im Flug, und am Ende waren wir erst zu Hause, als die Münchener Polizei längst Großalarm geschlagen hatte.

Statt in Richtung Schlafzimmer geht’s am frühen Morgen des 5. September schleunigst mit dem Bus ins Pressezentrum, wo sich die Nachrichten nur so jagen und man aus der Fülle von Informationen, die einem stückchenweise zugetragen werden, mit der Zeit nicht mehr weiß, was denn nun richtig und was falsch ist. 

Eine Pressekonferenz folgt auf die andere, das erste Ultimatum (von sechs) verstreicht, ohne dass die Terroristen ihre Drohungen mit der Erschießung einer israelischen Geisel wahrmachen, Polizeipsychologe Sieber will die direkte Fernsehübertragung des Dramas verbieten lassen, wird daraufhin von seinem Chef Schreiber aus dem Büro komplimentiert und verlässt entmutigt den Dienst. Sicherheitsleute tummeln sich in eiligst gekauften Puma-Trainingsanzügen auf den Dächern der Wohnblöcke, und die Terroristen können in der israelischen Wohnung via TV genauestens verfolgen, wie ungeschickt ihre Gegner sich anlegen, um ihnen beizukommen.

Schwarzer Strumpf, weißer Hut

Da es damals noch kein Handy und kein Internet gibt, müssen die Luxemburger Journalisten Geduld üben, bis übers Telefon-Festnetz ein Delegationsmitglied zu erreichen ist. Am späten Nachmittag des 5. September habe ich Leichtathletikbetreuer Jemp Hoffmann an der Strippe. Er erzählt, dass die Delegation von ihrer Wohnung aus die Besprechungen zwischen den Terroristen sowie Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher, Bayerns Innenminister Bruno Merk, Oberbürgermeister Georg Kronawitter, ‚Dorf‘-Bürgermeister Walther Tröger und Polizeipräsident Manfred Schreiber beobachten kann. So mancher Sportler schießt Fotos, die bei eventuellem Verkauf an ein Magazin mit Sicherheit ein paar D-Mark wert sind.

Der Sprecher der Guerillas, er nennt sich Issa, hat einen schwarzen Strumpf über den Kopf gestülpt, er trägt einen weißen Hut und ist nicht bewaffnet. Auf den Stockwerken haben drei, ebenfalls mit einem Strumpf getarnte und mit Maschinenpistolen ausgerüstete, Täter Platz genommen. Sie halten die Geiseln in Schach, während ein weiterer Kumpan aus dem Kellerfenster des Luxemburger Wohnblocks die gegenüberliegende Straßenseite beobachtet. 

Rote Pullover hinter Gardinen

In der Zwischenzeit sind auch Marcel Balthasar, Nelly und François Wies vom Training zurück. Die Luxemburger beziehen auf den Stockwerken 6, 7, 8 und 9 Quartier, während die unter ihnen wohnenden Birmanen aus dem Gebäude ausziehen müssen. Immer wieder finden vor dem Block mit der Nummer 31 Besprechungen statt, während die Terroristen auf den oberen Stockwerken sich kaum blicken lassen. Sie tragen rote Pullover und verstecken sich meistens hinter den Gardinen.

Die Geiselnahme zieht sich hin, die Welt hält den Atem an. In der Redaktion in Esch verlangen sie für 22.30 Uhr neben dem Aufmacher-Artikel auch einen Kurzkommentar von 1.000 bis 1.200 Anschlägen, der auf der letzten Seite abgedruckt wird. Für den Leitartikel auf Seite eins ist Direktor Jacques F. Poos zuständig.

Unter dem Titel „Blutiges Olympia um 5 Uhr früh“ tippe ich als  Kurzkommentar folgende Zeilen in meine Schreibmaschine und gebe das Manuskript an den olympischen Telex-Dienst weiter zur Verschickung in die Tageblatt-Redaktion.

„Grausame Fratze“

„Das war das Schlimmste, was passieren konnte. Politischer Mord, politische Erpressung im Olympischen Dorf. Skrupellose und blindwütige arabische Guerillas behafteten die „heiteren“ Spiele im Namen des „Freiheitskampfes“ mit einem Makel und besudelten sie mit israelischem Blut.

Eine Horde von politischen Verbrechern zerstörte das friedliebende Zusammentreffen der Jugend der Welt und leistete sich dabei eine unentschuldbare Abscheulichkeit, die einen absurden Widerspruch zu allen Ideen und Idealen darstellt, die den Olympischen Spielen zugrunde liegen … auch wenn diese Ideen und Ideale für viele nichts mehr als schizophrene Heuchelei sein mögen.

Der politische und mörderische Amoklauf löste lähmendes Entsetzen in der ganzen freiheitlichen Welt aus. Das freundliche Gesicht von Olympia hatte sich plötzlich zur grausamen Fratze verzerrt. Der palästinensische Terror regierte im Zeichen der fünf Ringe.

Das Morden im Dorf bewies, dass hinterlistige und feige Verbrecher jederzeit und überall zuzuschlagen imstande sind. Dennoch können sie damit niemals ein politisches Ziel rechtfertigen, welcher Art es auch immer sei.“

Fehler auf Fehler

Die Verhandlungen mit der „Bewegung Schwarzer September“ scheinen Früchte zu tragen. Nach einem für die deutsche Politik und die Polizei wenig ruhmreichen Tag werden die Terroristen und die von ihnen gefesselten Geiseln gegen 23 Uhr mit zwei Hubschraubern des Bundesgrenzschutzes zum Militärflugplatz Fürstenfeldbruck geflogen, wo eine Lufthansa-Maschine auf sie wartet.

Von nun an passieren den Sicherheitskräften Fehler auf Fehler. Sogenannte kaum ausgebildete Scharfschützen eröffnen das Feuer auf die Terroristen, die das Flugzeug inspizieren. Daraufhin wirft ein Araber eine Handgranate in einen der beiden Hubschrauber. Ein anderer ballert mit einer Kalaschnikow fünf gefesselte Geiseln nieder. Nach einstündiger Schießerei ist die Bilanz erschreckend: Insgesamt 15 Tote, neun israelische Sportler, fünf Terroristen und ein Stadtpolizist. Der Hubschrauberpilot und zwei Polizeibeamte müssen schwerverletzt in die Klinik eingeliefert werden.*) 

Richtig oder falsch?

Zuerst aber geht eine Falschmeldung um die Welt: „Alle Geiseln gerettet. Die Befreiungsaktion ist glücklich und gut verlaufen.“ BILD erscheint mit dem Titel: „Polizei schoss die Geiseln frei“. Um eine Stunde später als Sonderdruck mit neuem Titel auf den Markt zu kommen: „Alle Geiseln als Leichen gefunden!“

Am Tag nach dem Massaker sitze ich bei der ergreifenden Trauerfeier wie versteinert auf meinem Presseplatz im Olympiastadion und höre mir wie 80.000 andere den legendärsten Satz der Olympiageschichte an. IOC-Präsident Avery Brundage verkündet: „The games must go on.” 

Im September 1972 halte ich diese Entscheidung für richtig. 50 Jahre später frage ich mich, ob es den Opfern und ihren schwer geprüften Familien gegenüber nicht würdevoller und menschlicher gewesen wäre, die Spiele von 1972 nach dem Massaker von Fürstenfeldbruck zu beenden.

*) Drei Terroristen überleben. Sie werden inhaftiert, aber am 29. Oktober 1972 nach der Entführung der Lufthansa-Maschine „Kiel“ mit 12 Passagieren freigepresst. Zwei der drei Freigelassenen bringt der israelische Geheimdienst „Mossad“ später um.