Mit Populismus gegen die Wirklichkeit

Mit Populismus gegen die Wirklichkeit
(Ifinzi)

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Überall war es zu hören und zu lesen: „Das Volk hat dem 'Establishment' eine Abfuhr erteilt, die abgehobenen 'Eliten' wurden schmerzhaft mit der Wirklichkeit konfrontiert, die obere Mittelschicht und Oberschicht hatten ihre numerische Schwäche übersehen.“

Da kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. So, wie sich während der Kampagne nur wenige Medien kritisch mit dem Populismus der Anführer der Nein-Kampagne auseinandersetzten, so übernahmen sie in den Tagen nach dem Referendum fast alle unisono deren Sprache.

Was ist „Populismus“? Die deutsche „Bundeszentrale für politische Bildung“ beschreibt das Phänomen sehr treffend: „Populismus bezeichnet eine Politik, die sich volksnah gibt, die Emotionen, Vorurteile und Ängste der Bevölkerung für eigene Zwecke nutzt und vermeintlich einfache und klare Lösungen für politische Probleme anbietet.“
Im Duden (21. Auflage) ist die Rede von einer opportunistischen, volksnahen, oft demagogischen Politik, „die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen zu gewinnen.“

Aus den vielen Analysen, die es zu diesem Thema gibt, geht hervor, dass Populisten sich bürgernah geben und dem „Volk“ versuchen zu erklären, sie würden die Interessen der Bürger gegen die elitären Interessen der etablierten Parteien, Patronatsverbände, Gewerkschaften, Medien, Intelligentsia …, verteidigen. Diese „Eliten“ werden dann unter dem Sammelbegriff „Establishment“ zusammengefasst.

Seit wann gehören Migrantenvereine, Gewerkschaftler, linke Politiker und Denker, Umweltaktivisten, Schriftsteller und andere Künstler, eingewanderte Lohnabhängige … zum „Establishment“? Nagen die 165.000 Nein-Wähler (von einer Gesamtbevölkerung von 568.000) etwa am Hungertuch, gehören sie zur „Unterschicht“? Ministerialbeamte, Sekundarlehrer, Juristen, Mediziner, Gemeindebeamte, Geschäftsleute, Wissenschaftler, pensionierte Staats- und Arbed-Beamte … gehören im reichsten Land Europas, mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen und den höchsten Pensionen, zur unteren Mittelschicht bzw. zur Unterschicht?

Für das massive Nein am 7. Juni 2015 gibt es sicherlich viele kollektive und individuelle Gründe, aber zu suggerieren, 80% der luxemburgischen Wählerschaft seien das von den „realitätsfremden Eliten“ ignorierte Volk, das diesen „Eliten“ einen Denkzettel verpassen wollte, das geht einem selbst-denkenden kritischen Bürger, der sich weder zu irgendeiner Elite noch zum Establishment zählt, dann doch etwas zu weit. Das Gegenteil ist wahrscheinlich der Fall.

Eine von der luxemburgischen sozio-ökonomischen Wirklichkeit weitgehend getrennte Wählerschaft, die massiv von der weltoffenen Wirtschaftspolitik der letzten 50 Jahre und von der ausländischen Produktivkraft profitiert, hat massiv Nein gesagt zu derselben Offenheit, der sie ihren Wohlstand verdankt. Gerade sie wollen die Elite der luxemburgischen Bevölkerung sein und bleiben. Die anderen sollen für ihren Wohlstand schuften, aber mitbestimmen sollen sie nicht.
Elitäres Denken ist auch immer ausschließendes Denken, und das Denken, das man hinter dem massiven Nein vermutet, ist gerade eine Form von ausschließendem Denken, nach dem Motto: „Wir wollen unter uns bleiben und hier alles bestimmen, egal wie es in unserem Land aussieht! Wenn Ihr demokratisch mitbestimmen wollt, müsst Ihr Luxemburgisch lernen und unsere Nationalität annehmen“. Eine totale Begriffsverwirrung und Verkennung der Tatsachen, z.B. dass Luxemburg offiziell ein dreisprachiges Land ist!

Produktivkraft in ausländischer Hand

Hier nun einige Fakten darüber, wie es in unserem Land wirklich aussieht: Bei den letzten Sozialwahlen im November 2013 waren nach den Zahlen der Arbeitnehmerkammer (CSL) 438.837 Personen wahlberechtigt, davon waren 117.384 Luxemburger (26,75%). Wenn man die Pensionierten herausrechnet, fällt der Anteil der aktiven Luxemburger in der gewerblichen und nicht gewerblichen Wirtschaft auf 23,74% oder 79.757 Arbeitnehmer.

Rechnet man nun auch noch die Arbeitnehmer der Verwaltungen und öffentlichen Unternehmen sowie des Gesundheits- und Sozialsektors heraus, fällt der Anteil der Luxemburger auf 17,32%. Das heißt, dass im Herbst 2013 nur noch 49.037 Luxemburger in der produktiven Wirtschaft (Stahlindustrie, andere Industrien, Bausektor, Finanzsektor und andere Dienstleistungsbereiche) arbeiteten, von insgesamt 283.161 Lohnabhängigen in diesen Bereichen.

Auch im Gesundheits- und Sozialsektor sind die Luxemburger nicht mehr imstande, sich selbst um ihre Kranken und Bedürftigen zu kümmern. Von insgesamt 32.097 Arbeitnehmern (Stand Herbst 2013) waren nur noch 14.978 Luxemburger, das sind weniger als die Hälfte (46,66%).

Wer ist denn nun realitätsentfremdet?

Gewerkschaftler und Patronatsvertreter, die tagtäglich mit den wirtschaftlichen Wirklichkeiten konfrontiert werden, die ständig auf dem Laufenden sind über die Situation auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheits- und Sozialwesen? Die wissen, wo die Arbeitnehmerbeiträge in die Gesundheitskasse, Pensionskasse und Pflegeversicherung mehrheitlich herkommen (ausländische Arbeitskräfte) und an wen die Ausgaben der Sozialkassen mehrheitlich ausgezahlt werden (luxemburgische Empfänger)? Migrationsvereinigungen, die tagtäglich mit den Sorgen und Problemen der eingewanderten Arbeitnehmer und ihren Familien zu tun haben und diesen helfen, sich zu integrieren und die luxemburgische Sprache zu erlernen?

Ja sogar die meisten Politiker sind nicht realitätsentfremdet, da sie genau wissen, wie die sozialen, demografischen und wirtschaftlichen Realitäten sind. Sie werden, so wie die Medien auch, regelmäßig mit den aktualisierten Zahlen über den Arbeitsmarkt, die Lage in den Betrieben, die Situation in den Gesundheits- und Sozialsektoren sowie über das Bevölkerungswachstum versorgt. Sie wissen auch, dass sie der Verfassung nach nicht nur Politik für das „Wahlvolk“ zu machen haben, sondern für die gesamte Bevölkerung. Bei ihren Entscheidungen sollen sie nur die allgemeinen Interessen unseres Landes im Blickfeld haben (Art. 50).

Ausschließende Nation

Unsere Deputierten sind nämlich nicht nur die Deputierten ihrer Wähler, sondern die Vertreter der ganzen Bevölkerung. Da aber nur knapp mehr als die Hälfte der Vertretenen das Wahlrecht für die Parlamentswahlen besitzt, sind die Parteien natürlich vorsichtig, um ihre Wähler nicht zu „brutal“ mit den luxemburgischen Wirklichkeiten vertraut zu machen. Und machen damit ungewollt das Spiel der Populisten.

Denn die Nationalpopulisten stellen sich hin und bestärken die empfänglichen wahlberechtigten Luxemburger in der realitätsfremden Sichtweise ihres eigenen Landes. Und singen ihnen ein befremdendes, antiquiertes Lied von der „ausländerbereinigten“ Nation, von der Heimat der Einheimischen.

Luxemburg, das ist die „Nation Luxemburg“, die „Nation Luxemburg“ besteht nur aus den Luxemburgern. Ein Luxemburger ist einer, der nicht nur den luxemburgischen Pass in der Tasche hat, sondern der auch noch die luxemburgische Sprache beherrscht.

Die Luxemburger, die nicht Luxemburgisch sprechen, sind keine echten Luxemburger. Die anderen zwei offiziellen Sprachen, Deutsch und Französisch, die brauchen wir nicht mehr. Diese Sprachen sind die Sprachen der Elite. Alle Texte sollen in Zukunft auf Luxemburgisch geschrieben werden, auch unsere Gesetze. Realitätsfremd? Exklusionsdenken?

Wenn 78% der Wähler gegen die Öffnung des Wahlrechts für eingesessene ausländische Mitbürger, die bereits zum Wahlvolk gehören, stimmen, ist das eindeutig ein ausländerunfreundliches Signal und stößt alle Ausländer, die in diesem Land tagtäglich massiv zur Wertschöpfung auf allen Ebenen (nicht nur dem wirtschaftlichen), beitragen, gegen den Kopf. Man fragt sich, auf welchem Planet Bürger, die so etwas fertigbringen, leben, wie realitätsentfremdet sie sind. Ließen sich die Neinsager von unverantwortlichen Nationalpopulisten in die Irre führen?

Wenn es ein Land auf der Welt gibt, in dem rückschrittlicher, ausschließender und fremdenunfreundlicher Nationalismus absolut und definitiv Fehl am Platz ist, dann in Luxemburg. Aufgeschlossene und realitätsvertraute Luxemburger können sich für dieses Resultat nur schämen!