Klangwelten Brot, Spiele, Aliens und Maynard: Puscifers viertes Album „Existential Reckoning“

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Puscifer – Existential Reckoning

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Weil Maynard James Keenan neben seiner Hauptband Tool, seiner nicht weniger spannenden Zweitband A Perfect Circle, seinem Weingut und seiner Wein- und Pasta-Bar zeitlich nicht ausgelastet zu sein scheint, veröffentlicht er dieser Tage „Existential Reckoning“, das neue Album seiner Drittband Puscifer. Das ist allein schon beeindruckend, weil Maynard innerhalb kürzester Zeit drei (Achtung, Spoiler: ausgezeichnete) Platten mit drei verschiedenen Formationen veröffentlicht(1), wirkt für Maynard-Fans zudem aber schon fast befremdend: Viele Musikfans assoziieren den Tool-Sänger mit Beckett’schem Warten auf neue Musik, zwischen den letzten beiden Tool-Alben verstrichen ganze 13 Jahre.

Puscifer schreibt Konzeptalben, die das Konzept von Konzeptalben ad absurdum führen: Die Rahmenstory eines Puscifer-Albums ist meist so ulkig, pompös und verschachtelt, dass man sich nicht nur fragt, welches Kraut die Band im Studio geraucht hat, sondern hinter dem mürrischen, kauzigen Wesen des Tool-Sängers Maynard James Keenan einen Menschen mit einem ausgeprägten Sinn für schrägen Humor erkennt. Nachdem uns die dritte Platte „Money Shot“ (2015) ins Universum des Wrestling entführte und die Band sogar mit Choreografen und Kampf-Ring tourte, will das vierte Album mit dem schönen Titel „Existential Reckoning“ die Story des obdachlosen, von Aliens entführten Wein-Fans Billy D. und seiner Rettung durch drei Spezialagenten erzählen.

Dass Hauptsongwriter Mat Mitchell und Sängerin Carina Round als „Special Agent in Charge“, Maynard lediglich als „Special Agent in Training“ vermerkt sind, hat mehr mit dem selbstironischen Humor Maynards als mit einer musikalischen Hierarchisierung innerhalb der Band zu tun: Nach wie vor ist es die Verzahnung von Maynards und Carina Rounds Stimmen, die der zunehmend minimalistischeren Musik von Puscifer ihren Stempel aufdrückt, das Agenten-Narrativ bedient hauptsächlich, wie zuvor bei „Money Shot“, den ästhetischen Rahmen – die Band tritt in Klischee-Agenten-Kostümen auf, Maynard trägt dunkelroten Lippenstift, im Clip zur Lead-Single „Apocalyptical“ steht der Tool-Sänger vor einer mit Toilettenpapier gefüllten Lagerhalle.

Klang das relativ zerfahrene Debüt „V is for Vagina“ (2007) noch nach einem wilden Experimentierfeld für Maynards poppigere Songskizzen, so sorgt Carina Round seit „Conditions of My Parole“ (2011) für übersichtlichere Songstrukturen – ein Umstand, der auch auf dem Nachfolger „Money Shot“ für organische Elektro-Pop-Songs mit zweitstimmigem Gesang sorgte. Bei „Existential Reckoning“ spielen Gitarre, Bass und Schlagzeug eine untergeordnete, aber nicht unwichtige Rolle, im Zentrum stehen unzählige Synthies, die sich irgendwo zwischen Krautrock, Nine Inch Nails und Elektropop ansiedeln. Carina Rounds Stimme ergänzt Maynards synkopierten Gesang mit einer betörend komplexen Schicht an Gesangseinlagen, die so clever und variabel eingesetzt sind, dass sie die Hierarchisierung von Backing und Lead Vocals hinterfragen und teilweise auflösen.

Trotz ihrer minimalistischen Struktur passiert in diesen Songs ungemein viel – Puscifer gelingt es, auf grandiosen Tracks wie Opener „Bread and Circus“, den beiden Single-Auskopplungen „Apocalyptical“ und „The Underwhelming“ oder dem toll instrumentierten „UPGrade“ mäandernde Songstrukturen mit eingängigen Gesangsmelodien zu verbinden. Das Ineinandergreifen von organischen und elektronischen Klängen ist subtil, die Liebe zu den Details offenbart sich dank einer synkopierten Rhythmik, die viel Raum für Stille und klangliche Zwischenräume aufmacht.

Die Zutaten von „Existential Reckoning“ sind keineswegs neu, trotzdem entwickelt Puscifer hier mehr denn je eine ganz eigene Klangwelt, in der die an sich außerweltlichen Songs durch ihre Texte einen ganz konkreten Aktualitätsbezug bekommen.

Mit „Personal Prometheus“ gibt es eine Art Ballade mit warmen synthetischen Bassklängen, die neben den ruhigeren Tracks von „Eat the Elephant“ ihren Platz gehabt hätte, „Fake Affront“ fällt inmitten progressiv-verschachtelter Tracks durch seine herkömmlichere, rockigere Struktur auf und gehört zu den für Puscifer mittlerweile unumgänglichen Tracks mit charmant-fiesen Texten (vgl. „The Remedy“ auf „Money Shot“) und „Bullet Train to Iowa“ ist ein toller Wüstenstaub-Blues. Die Platte ist vielleicht ein wenig zu lang, hat aber kaum Füllmaterial, sodass man sich überaus gerne auf diese Stunde „Existential Reckoning“ einlässt. (Jeff Schinker)

(1) „Eat the Elephant“ (2018) mit A Perfect Circle, „Fear Inoculum“ (2019) mit Tool und nun „Existential Reckoning“ mit Puscifer

Anspieltipps: Bread and Circus, Apocalyptical, UPGrade, Fake Affront, The Underwhelming
Bewertung: 9 von 10 Punkten