LEITARTIKEL /Er wollte es wissen

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Als die Iren den Lissabonner EU-Vertrag verwarfen, musste Herr Juncker seine Zukunft revidieren. Alvin Sold

Als die Iren den Lissabonner EU-Vertrag verwarfen, musste Herr Juncker seine Zukunft revidieren.
Er hatte gute Chancen, im Januar 2009 als Erster das neue Amt des permanenten Ratspräsidenten anzutreten. Eine große Mehrheit der Staats- und Regierungschefs unterstützte ihn; allein der Brite tat sich noch schwer, aber auch er wäre zu überzeugen gewesen.
Doch jetzt geht nicht nur Europa, sondern auch ihm kostbare Zeit verloren. Wer weiß, wem die Gunst der Stunde zuneigt, wenn die skeptischen Insulaner ihr Votum denn revidierten? – Der Luxemburger ist nicht allein im Rennen um den möglicherweise sehr einflussreichen Posten.
Berufspolitiker haben immer einen Plan B.
Dann bleib ich eben Premier zu Hause, heißt Junckers Plan B. Zumindest vorerst.
Da trifft es sich doch gut, dass im Juni 2009 Wahlen sind: Die CSV braucht nicht mit dem umstrittenen Herrn Frieden anzutreten. Sie verfügt über ihr Ass, über den Mann, der intuitiv spürte, wie eine im Kern konservative und klerikale Partei den Sozialisten die Hälfte ihrer Wählerschaft abnehmen kann. Nämlich, indem sie sich sozial- und teilweise gesellschaftspolitisch so fortschrittlich gibt, dass man ihr Passé vergisst. Wie oft gelang es Juncker, den Eindruck zu erwecken, er überholte die LSAP links, im Formel-1-Tempo? Mit Phrasen, die mitreißen, obwohl sie Grundfalsches aussagen.
Beim CSV-Sommerfest verstieg er sich dieser Tage zur Behauptung, die CSV wäre die Partei der kleine Leute. Welche Verbiegung der Fakten!
Wie ihre Vorgängerin, die Rechtspartei, wehrte dieCSV sich jahrzehntelang gegen Reformen, die Geld von oben nach unten umverteilten. Sie gab nach, wennder Druck des linken Lagers zu stark wurde, und beanspruchte ungeniert das Urheberrecht für die jeweiligen Gesetze.
Wie ihre Vorgängerin, die Rechtspartei, kämpft die CSV in letzter Konsequenz gegen alle emanzipatorischen Novellen. Gegenwärtig in Sachen Sterbehilfe, gestern gegen ein zeitgemäßes Scheidungsrecht, vorgestern gegen die Gleichstellung von Mann und Frau.
Etikettenschwindel ist in der Politik leider so gang und gäbe wie Doping im Sport.
Da gibt es den Etikettenschwindel der harmloseren Art, etwa, wenn die schwarze CSV sich orangefarben tüncht, um jung und voller Saft zu wirken.
Und da gibt es den hochpolitischen Etikettenschwindel, der Kräfteverschiebungen zu Gunsten einzelner, privilegierter Kategorien tarnt.
Herr Juncker erklärte vor versammelter CSV, das zurzeit im Geiste des Luxemburger Modells modulierte Indexsystem könnte auch 2010 nur dann wieder voll gelten, wenn die Inflation unter die Zwei-Prozent-Marke falle. Er sprach wie einer der EZB-Banker, deren Thesen er als Präsident der Euro-Gruppe ja gerne vertritt.
Mit dieser Aussage vermittelte er zweierlei:
1. Das Luxemburger Indexsystem ist klinisch tot, weil es keine hohe Inflation mehr verträgt. In den 80er Jahren musste die Wirtschaft ein paar Mal drei, vier und sogar fünf Tranchen verkraften. Sie tat es, zähneknirschend, weil die Politik sie dazu verpflichtete. Die Kaufkraft der Luxemburger blieb in etwa erhalten.
2. Heute kann die Politik die Wirtschaft zu nichts mehr verpflichten. Es gab das, was die Amerikaner den „power shift“, den Machtwechsel nennen. Die wirklichen Großverdiener brauchen mit niemandem mehr zu teilen. Es ist kein Zufall, dass die Zahl der Millionäre und Milliardäre in rasendem Tempo wächst. Sie wächst, weil den kleinen Leuten, die Herr Juncker mit seiner CSV zu schützen vorgibt, ganz legal Geld geklaut wird.
Die Ausrede der an diesen Zuständen schuldigen Finanzpolitiker, sie würden die Ratschläge der Wirtschaftswissenschaftler befolgen, können wir nicht gelten lassen. Am Ursprung jeder von der Geschichte als falsch erkannten Wirtschaftspolitik standen Wirtschaftswissenschaftler, Nobelpreisträger inklusive.
Und weil es nie eine nachhaltig richtige Wirtschaftspolitik gab, nirgends auf dieser Welt, ist zwingend zu folgern, dass Politiker sich nicht hinter auch noch so gescheiten Theoretikern verstecken dürfen.

Wetten, dass?

Juncker beginnt zu ahnen, dass er eines Tages wegen seiner schiefen Wirtschafts- und Finanzpolitik allein im Regen stehen wird. Deshalb wollte er testen, ob er mit der radikalen Abschaffung des Systems durchkäme.
Weil die Antwort ein klares Nein ist, wird er es mit seiner CSV andersrum versuchen. Notfalls auf die populistische Manier: Anpassung nur noch für „untere Einkommensklassen“.
Wetten, dass?


asold@tageblatt.lu