Ein Land steht unter Schock

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Polen am Tag danach: Sirenen heulen am Sonntagmittag, wildfremde Menschen reichen sich zur landesweiten Trauerminute die Hand und bilden vor dem Präsidentenpalast in Warschau eine Menschenkette um abertausende niedergelegter Kerzen und Rosen.

 Das Extrablatt der größten polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ erscheint mit Trauerflor, die Sonderausgabe des Konkurrenten „Rczeczpospolita“ mit schwarzem Rand.
Der tödliche Absturz von Staatspräsident Lech Kaczynski, seiner Frau und Dutzenden weiteren führenden Politikern, Militärs und Kulturschaffenden hat Polen in Schockstarre versetzt. In der Trauer vereint, rückt das Land zusammen, und das vor der nun fälligen Neuwahl des Präsidenten.
Sejm-Marschall Bronislaw Komorowski, der nach dem Tod Kaczynskis kommissarisch die Staatsgeschäfte übernommen hat, bringt es in einer Fernsehansprache auf den Punkt: Die nationale Tragödie vereinigt alle, es gibt keine Spaltung mehr in rechts und links, politische Meinungsverschiedenheiten sind bedeutungslos geworden.
Lech Walesa, Polens legendärer Arbeiterführer und erster demokratisch gewählter Präsident, hat es am Tag des tragischen Absturzes von Smolensk am Samstag deutlich ausgedrückt: Polen hat 70 Jahre nach dem Massaker an mehr als 20.000 Offizieren und Intellektuellen im russischen Katyn noch einmal einen Großteil seiner geistigen Elite verloren.
Ausgerechnet an dem Tag, an dem erstmals ein polnischer Präsident selbst am Ort des Geschehens der vom sowjetischen Geheimdienst Ermordeten gedenken wollte, kommt es zur Tragödie.
Auch wenn es diesmal „nur“ 97 Opfer sind und die Ursache ein Flugzeugabsturz ist: „Rzeczpospolita“ schreibt von der „größten Tragödie im zeitgenössischen Polen“ und trifft damit den Nerv der Menschen im Land. „Gazeta Wyborcza“ hat auf der Titelseite ihres kostenlos verteilten Extrablatts die Fotos aller 97 Toten des Flugzeugabsturzes abgebildet.
Neben Kaczynski und seiner nicht nur wegen ihres umweltpolitischen Engagements sehr beliebten Frau Maria enthält die Totenliste einen wesentlichen Auszug aus dem „Who is Who“ des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Polen. 

Legendäre Kranführerin tot

So war an Bord der im Wald bei Smolensk ausgebrannten Maschine auch der letzte polnische Exilpräsident in London, der 90jährige Ryszard Kaczorowski. Auch die einstige Kranführerin der Danziger Lenin-Werft, Anna Walentynowicz, deren Entlassung letztlich zur Gründung der freien und unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc und damit zu den politischen Umwälzungen in Polen und dem Ostblock führte, starb mit 80 in den Flugzeugtrümmern.
Zudem sind unter den Toten drei stellvertretende Parlamentspräsidenten und zwölf weitere Abgeordnete von Regierungsparteien und Opposition. Es starben der Chef der Präsidialkanzlei Kaczynskis und eine Reihe weiterer enger persönlicher Mitarbeiter des Staatsoberhaupts, aber auch sein Leibarzt und sein Beichtvater. Die Staatssekretäre im Außen-, Verteidigungs- und Kulturministerium sind unter den Opfern.
Ebenso der Präsident der polnischen Nationalbank, der Chef des Olympischen Komitees, die Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer, der Ombudsmann, der Rektor der Kardinal-Stefan-Wyszynski-Universität, der Präsident des Instituts für nationale Erinnerung, der des Veteranenverbands und zahlreiche Angehörige der in Katyn ermordeten Offiziere und Intellektuellen.
Ausgelöscht wurde bei dem Flugzeugabsturz aber auch die gesamte Militärführung des Landes: der Generalstabschef, der Kommandeur der polnischen Luftstreitkräfte, der Befehlshaber des Heeres und der Oberbefehlshaber der Marine.
Doch ist Polen ja längst nicht mehr im Krieg. Nachbarländer wie Deutschland oder Russland stellten sich in der Trauer an die Seite Polens. Und der russische Ministerpräsident Wladimir Putin umarmte am Samstagabend am Unglücksort seinen polnischen Amtskollegen Donald Tusk.
Dass der nicht auch noch zu den Opfern zählt, ist nur der Tatsache zu verdanken, dass der Ministerpräsident bereits am Mittwoch an der offiziellen Katyn-Gedenkfeier teilgenommen hatte und am Samstag nicht noch einmal nach Russland fliegen wollte. Am Abend tat er es dann doch und kniete an der Absturzstelle nieder.

Spekulation um Kandidatur des Zwillingsbruders

Der Leichnam Kaczynskis wurde von dessen Zwillingsbruder Jaroslaw identifiziert, der ebenfalls nach dem Unglück nach Russland flog. In ersten Spekulationen wird der ehemalige Regierungschef als möglicher Ersatzkandidat der konservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ für das verstorbene Staatsoberhaupt gehandelt.
Doch ernsthafte Gedanken an Wahlkampf treten in Polen erst einmal hinter dem Gedenken an die Toten von Smolensk zurück. Neben Kaczynski selbst, dessen neuerliche Kandidatur bei der eigentlich im Oktober anstehenden Wahl als sicher galt, ist mit dem stellvertretenden Sejm-Marschall Jerzy Szmajdzinski ein weiterer Präsidentschaftskandidat bei dem Absturz ums Leben gekommen. Der ehemalige Verteidigungsminister wollte für die sozialdemokratische Linke antreten. Also sind von den drei aussichtsreichsten Kandidaten für das Präsidentenamt zwei tot.
Und der dritte hat die Funktion jetzt unfreiwillig schon einmal kommissarisch inne: Parlamentspräsident Komorowski, der nach der Verfassung jetzt die Geschäfte des Staatsoberhaupts führt, war von der liberalen Regierungspartei Bürgerplattform als Kandidat aufgestellt worden.
Er muss nun binnen 14 Tagen einen Wahltermin benennen, der spätestens weitere 60 Tage danach liegen muss. Also muss bis zum 20. Juni gewählt werden, und im Wahlkampf wird sich dann zeigen, wie lange der politische Frieden nach dem Unglück in Polen anhält.

APN