Dienstag11. November 2025

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„Alles war komplizierter“

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Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewetisch lässt die Menschen über Krieg und menschliche Tragödien erzählen. Am Freitag erzählte sie über ihre Arbeit und ihr Leben heute.

Ihre Bücher lesen sich wie Romane, oder besser wie eine Sammlung kurzer Geschichten. Spannend ist die Lektüre schon, könnte man sagen. Doch zu Schilderungen, Erzählungen aus dem Leben, passt der Begriff wohl nicht.

Für ihre Bücher greift Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch auf Tatsachenberichte von Menschen zurück, Erzählungen, die die Autorin ihnen bei langen Gesprächen entlockt. Berichte von Menschen, wie sie den Krieg, den Großen Vaterländischen Krieg, wie die vormaligen Sowjetbürger den Zweiten Weltkrieg nennen, erlebten, oder Berichte von Überlebenden der Tschernobyl-Katastrophe.

Für ihr Werk „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ bekam Alexijewitsch 2015 den Literaturnobelpreis.

Am Freitag weilte die belorussische Schriftstellerin im Rahmen des Luxemburger Filmfestivals in Luxemburg. Der Anlass: Die Vorführung des Dokumtarstreifen „ La supplication“ des Luxemburger Filmregisseurs Pol Cruchten, der auf das Werk Alexejiwitschs beruht.

Die Belorussin ist keine gewöhnliche Schriftstellerin. Die Figuren ihrer Bücher sind bzw. waren reale Menschen. Sie erlebten bzw. erleben das, was die Autorin schreibt. Für ein Buch treffe sie zwischen 500 und 800 Personen, viele von ihnen mehrmals, sagte sie ihrem Publikum im „Quartier Général Magic Mirrors“ einem gemütlich eingerichteten Zeltaufbau vor der Gëlle Fra in Luxemburg.

Warum diese literarische Form? Weil sie die Wirklichkeit genauer wiedergibt, sagt sie. In einem Roman würde der Autor das Erlebte auf seine Weise wiedergeben, interpretieren.

Bereits in ihrer Jugend habe sie das, was die Menschen auf der Straße erzählen, interessiert. Da sprach man über das Leben, über die Liebe. In einer Zeit, wo Zeitungen und Bücher sehr zensuriert waren, war das, was die Leute auf der Straße erzählten, die harte Wahrheit, sagt Alexejewitsch.

Was nicht in der Zeitung stand

Ihre berufliche Laufbahn begann die Autorin als Journalistin in einer Provinzzeitung. Doch was sie interessierte, konnte sie damals nicht in der Zeitung schreiben.

Sie habe sich stets für die Geheimnisse der Menschen interessiert, sagt sie. Entsprechend sucht sie sich Menschen aus, die sie befragt, aber nicht als Journalistin, sondern als Schriftstellerin, Sachen, die die Journalisten und die Zeitungen nicht interessieren. Sie versuche Antworten auf die Frage zu finden, wie Menschen Menschen bleiben, und das in den schwierigsten Situationen, sei das im Krieg oder bei Tragödien wie die Tschernobyl-Katastrophe.

Diese ihre Heransgehensweise, etwa bei der Schilderung der Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges, wo sie auf Erzählungen von Frauen zurückgriff, führte dazu, dass ihr Buch zu Sowjetzeiten nicht publiziert wurde. „Würden wir das tun, würde niemand mehr in den Krieg wollen“, soll ihr der Zensurbeamte gesagt haben. Erst nach dem Machtantritt von Michail Gorbatschow 1985 wurde ihr Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ publiziert.

Alexijewitsch ist eine politisch engagierte Schriftstellerin. Daraus machte sie auch am Freitag Abend keinen Hehl. Zusammen mit anderen Intellektuellen wollte sie das Land verändern. Doch das misslang.

„Alles komplizierter als wir dachten. Wir waren Romantiker in den 1990er Jahren.“ Man dachte, es reiche bloß, dass die Menschen die Wahrheit lesen, damit sich alles ändere. Doch bald blieben auch Solshenizyns Bücher in den Regalen der Buchläden liegen, die Menschen gingen an ihnen vorbei. Sie wollten lediglich schöner leben.

Zurück in die Vergangenheit

Verbitterung ist aus Alexejiwitschs Worten herauszuhören. Russland sieht sie auf dem Weg zurück in die Vergangenheit. Präsident Putin sei dabei, das Land erneut zu militarisieren, das Land in einen Militärstaat zu verwandeln. Und die Menschen? Nur ein paar Tausend gehen auf die Straße, bedauert sie. Die Mehrheit will bloß schön leben, sich schöne Autos kaufen, nach Ägypten fliegen.

Früher dachte man, es reiche die Kommunisten zu bekämpfen, die für alles Schlechte verantwortlich seien. „Wir fühlten uns stark“. Die Kommunisten gingen, blieben eine Zeit lang sprachlos, kamen dann aber wieder zurück, zusammen mit den alten Strukturen.

Dennoch, ein Ende will Alexejiwitsch ihrer Schrifstellerlaufbahn nicht setzen. Sie arbeitet bereits an zwei weiteren Bücher: Eines über Männer und Frauen und die Liebe. Das Zweite geht über Alter und Tod.

Dass ihre Bücher heute in ihrer Heimat Belorussland, wo sie heute wieder lebt, nicht publiziert werden, stört sie nicht. Sie werden ja im Nachbarland Russland auf russisch veröffentlicht. Und irgendwie finden die Bücher ihren Weg zu ihren Lesern, sagt sie.

Ein Gespräch mit der Nobelpreisträgerin Alexejiwitsch am Montag im Tageblatt.