Litauer könnte Regierungschef in der Ukraine werden

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Während die Märkte am gestrigen Dienstag positiv auf den Erdrutschsieg von Wolodymyr Selenskijs „Volksdiener“ reagiert haben, hat in Kiew die Suche nach einem geeigneten Premierminister begonnen.

Von unserem Korrespondenten Paul Flückiger, Warschau

„Wir wollen eine starke, unabhängige Persönlichkeit, die sowohl in der Ukraine wie im Westen Respekt genießt“, wünschte sich der Staatspräsident bereits in der Wahlnacht. Dem politisch unerfahrenen Ex-Komiker Selenskij obliegt es, dem Parlament innerhalb von 30 Tagen einen Regierungschef vorzuschlagen. Die neue Werchowna Rada, das ukrainische Einkammerparlament, soll laut Plan am ukrainischen Nationalfeiertag, dem 24. August, vereidigt werden. Selenskijs Wunschkandidat soll ein „Wirtschaftsguru“ und ein „gutes Vorbild“ sein.

Nicht weniger als sechs Namen machten gestern in Kiew die Runde. Als möglicher Favorit wurde dabei gar ein Ausländer gehandelt. Es geht dabei um den litauischen Finanzmanager Aivaras Abromavicius, der bereits unter Selenskijs Vorgänger Petro Poroschenko kurzzeitig als Finanzminister amtierte. Im Januar 2016 legte er sein Amt unter Protest wegen der allgegenwärtigen Korruption nieder. Der 43-jährige Abromavicius nahm 2014 die ukrainische Staatsbürgerschaft an und hat sich nach seinem Rücktritt immer wieder als liberaler Kritiker des seiner Ansicht nach viel zu wenig forschen Reformkurses von Poroschenko hervorgetan. Der in den USA ausgebildete Abromavicius hatte sich schon früh dem Team Selenskij angeschlossen.

Doch auch Abromavicius’ Nachfolger als Finanzminister unter Poroschenko, Oleksandr Daniljuk, wird als gute Option gehandelt. Daniljuk war im Juni 2018 ebenso unter Protest von seinem Amt zurückgetreten. Auch er hatte die Korruption als Grund mitangeführt. „Ich werde mein Land nicht verkaufen“, hatte er seinen Schritt damals begründet. Daniljuk wurde allerdings von Selenskij erst kürzlich zu Oleksandr Turtschinows Nachfolger als Vorsitzender des Obersten Sicherheitsrats ernannt. Dies spricht gegen einen Amtswechsel nach so kurzer Zeit.

Noch als Geheimtipp wird der gerade zum Obersten Zollchef beförderte, erst 35-jährige Maksim Nefjodow gehandelt. Der Ökonom soll breite Unterstützung in der Homosexuellenbewegung genießen, eine Seltenheit in der weltanschaulich konservativen ukrainischen Politik. Dazu kommen zwei leitende Manager des staatlichen Gasmonopolisten „Naftogas“ und ein Nationalbank-Unterhändler mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aus Odessa.

Unpopuläre Entscheidungen

Gute Beziehungen zum IWF sind für die auf internationale Hilfsgelder angewiesene Ukraine besonders wichtig. Erst kürzlich wurde die letzte Zwei-Milliarden-Dollar-Tranche des aktuellen IWF-Kredits blockiert, weil sich die alte Werchowna Rada geweigert hatte, nach den Privathaushalten nun auch die Energiepreise für die Industrie den Marktpreisen anzupassen.

Dem neuen, von den „Volksdienern“ dominierten Parlament stehen bereits im August eine Reihe höchst unpopuläre Entscheidungen bevor. Dann wird sich zeigen, wie viel Einfluss die Oligarchen noch haben. Sie alle haben jahrelang mit ihren Firmenkonglomeraten von den subventionierten Energiepreisen und krummen Geschäften im Energiesektor profitiert.
Noch immer waren derweil gestern Nachmittag nicht alle Stimmen ausgezählt. Nach rund 98 Prozent ausgezählter Stimmzettel schob sich allerdings die patriotisch-populistische Vaterlandspartei der zweimaligen Regierungschefin Julia Timoschenko mit 8,18 Prozent vor Poroschenkos ehemalige Präsidentenpartei „Europäische Solidarität“ (8,12 Prozent). Dies ist eine große Überraschung. Timoschenko hatte sich früher selbst als mögliche Koalitionspartnerin der Volksdiener ins Gespräch gebracht. Zusammen mit den Abgeordneten der Partei „Stimme“ (Golos) des Rockmusikers Wjatscheslaw Wakartschuk könnte sie Selenskij die angestrebte verfassungsgebende Mehrheit von knapp mindestens 293 Sitzen verschaffen. Diese haben die Volksdiener trotz ihrer absoluten Mehrheit im Parlament verfehlt. Volksdiener-Chef Dmitri Razumkow forderte gestern Abend indes erst einmal die 48 unabhängigen Kandidaten dazu auf, seiner Partei beizutreten. Gelingt dieser Plan, brauchte Selenskij selbst für eine Verfassungsänderung keine Koalitionspartner.

Gewisse Vorbehalte bei der Durchführung der Parlamentswahlen äußerte die Wahlbeobachtermission der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeitin Europa“ (OSZE). Zwar wurde die Wahl „frei und fair“ gelobt, doch kritisierten insbesondere die Langzeitbeobachter die teils unklare Finanzierung der Parteien. Kritisiert wurden insbesondere „weitverbreitete Amtsvergehen und Missbrauch politischer Finanzierung“.

Auch der Kauf von Wählerstimmen sei ein „ernsthaftes Problem“ in der Ukraine, erklärte die OSZE. Wahlrechtsverletzungen hatten am Sonntag auch der Bürger-Watchdog „Opora“ festgestellt. Allerdings hätten diese das Wahlresultat nicht beeinflusst, schätzte „Opora“.