Donnerstag23. Oktober 2025

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KasachstanDas Ausmaß der Unruhen wird langsam deutlich, aber es bleiben viele Fragen

Kasachstan / Das Ausmaß der Unruhen wird langsam deutlich, aber es bleiben viele Fragen
Jahresbeginn in Kasachstan: Von der Preiserhöhung für Treibstoffe bis zu brennenden Regierungsgebäuden vergingen nur wenige Tage Foto: AFP/Alexandr Bogdanov

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Am Freitag befahl Kasachstans Präsident Tokajew, auf Demonstranten zu schießen. Nun wird das dramatische Ausmaß der Unruhen in Kasachstan langsam deutlicher. Der Staatschef nutzt derweil Experten zufolge die Krise, um sich von seinem Vorgänger Nasarbajew zu lösen. Trotzdem bleiben erst einmal mehr Fragen als Antworten.

Wenige Tage nach einem von Präsident Kassym-Schomart Tokajew erteilten Schießbefehl haben die autoritären Behörden in Kasachstan von mindestens 164 Todesopfern bei den schweren Unruhen gesprochen. Alleine in der besonders schwer betroffenen Millionenstadt Almaty seien 103 Menschen ums Leben gekommen, darunter zwei Kinder, berichtete das kasachische Staatsfernsehen am Sonntag unter Berufung auf das Gesundheitsministerium.

Wie viele der Todesopfer Zivilisten waren, war zunächst unklar. In den vergangenen Tagen waren aus der Wirtschaftsmetropole im Südosten des Landes immer wieder Fotos von abgedeckten Leichen auf Gehwegen, brennenden Gebäuden und schwer bewaffneten Sicherheitskräften nach außen gedrungen. Weil das Internet wiederholt komplett abgestellt und die Mobilfunkverbindung ständig unterbrochen war, ist es allerdings zwischenzeitlich kaum möglich gewesen, an verlässliche Informationen aus Almaty zu kommen. Kasachstan hat zudem seine Grenzen für Ausländer geschlossen.

Beruhigung am Sonntag, aber „alles ist kaputt“

„Heute ist die Situation in der Stadt relativ ruhig“, sagte ein in Almaty lebender Journalist der dpa am Sonntag. „Gestern Abend habe ich noch selbst Schüsse gehört.“ Viele Lebensmittelgeschäfte seien geplündert worden. „Bankfilialen, Bankautomaten – alles ist kaputt.“ Vor Bäckereien, die den Betrieb wieder aufgenommen hätten, bildeten sich lange Schlangen, erzählte der 50-Jährige. Weiterhin funktioniere das Internet nicht. Der Flughafen der Stadt wurde vorübergehend von Protestierenden besetzt und soll schwer beschädigt worden sein. Wann er seinen Betrieb wieder aufnimmt, war zunächst unklar.

Hat sich als eiskalter Autokrat geoutet: Präsident Tokajew galt bislang als Marionette seines Vorgängers Nasarbajew
Hat sich als eiskalter Autokrat geoutet: Präsident Tokajew galt bislang als Marionette seines Vorgängers Nasarbajew Foto: AFP/Präsidentenbüro Kasachstans

Gerade mit Blick auf Almaty hatten Kasachstans Behörden immer wieder von aus dem Ausland gesteuerten „Terroristen“ gesprochen. Dafür gab es zunächst keine Belege. Immer klarer scheint aber mittlerweile, dass in der Stadt – anders als in vielen anderen Landesteilen mit friedlichen Demos – wohl auch bewaffnete Mobs unterwegs waren. Der vor Ort wohnende Journalist sprach am Telefon von rund 2.000 Menschen, die Ende vergangener Woche laut schreiend und mit Stöcken in den Händen an seinem Haus unweit des Stadtzentrums vorbeigelaufen seien.

Ich habe den Befehl gegeben, ohne Vorwarnung tödliche Schüsse abzugeben

Präsident Tokajew am Freitag in einer Fernsehansprache

Am Freitag hatte Präsident Tokajew Polizei und Armee befohlen, „ohne Vorwarnung“ auf Demonstranten zu schießen. International löste das großes Entsetzen aus. Befürchtet worden war daraufhin, dass es viele zivile Todesopfer geben könnte. Laut offiziellen Angaben sind landesweit bislang mehr als 2.200 Menschen verletzt worden. Knapp 6.000 Demonstranten wurden festgenommen. Auch diese Angaben konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Wer sind die Menschen, die jetzt noch protestieren?

Auch wenn Tokajew und Staatsmedien immer wieder von bewaffneten „Terroristen“ sprechen, die aus dem Ausland gesteuert seien: Vielerorts hielten Menschen unabhängigen Nachrichtenkanälen zufolge kleinere, friedliche Kundgebungen ab. Noch am Wochenende hätten sich etwa in Schangaösen im Westen des Landes rund 1.000 Menschen gewaltfrei versammelt, schrieb das Portal Orda auf Telegram.

Die Unruhen in der an China und Russland grenzenden Ex-Sowjetrepublik dauern seit einer Woche an. Unmut über gestiegene Treibstoffpreise in dem öl- und gasreichen Land schlug in Proteste gegen die Staatsführung um. Tokajew verhängte den Ausnahmezustand und bat die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit um Unterstützung (OVKS) um Hilfe. Rund 2.500 ausländische Soldaten wurden nach Angaben des von Russland geführten Bündnisses, dem auch Armenien, Belarus, Kirgistan und Tadschikistan angehören, nach Kasachstan geschickt.

Warum ist die Quellenlage so schwierig?

Die autoritären kasachischen Behörden haben vielerorts immer wieder das Internet abgestellt. Die Ex-Sowjetrepublik hat zudem die Grenzen für Ausländer geschlossen. In Almaty war die Mobilfunkverbindung ständig unterbrochen. Unabhängige Journalisten und Beobachter dort vor Ort zu erreichen, war zwischenzeitlich kaum möglich.

Demonstranten am vergangenen Mittwoch in Almaty – es war der Tag, als die Proteste in Gewalt eskalierten
Demonstranten am vergangenen Mittwoch in Almaty – es war der Tag, als die Proteste in Gewalt eskalierten Foto: AFP/Abduaziz Madyarov

Tokajew ordnete für Montag eine landesweite Staatstrauer an, um der Opfer zu gedenken. Gleichzeitig baute der 68-Jährige die Staatsführung weiter um. So entließ er am Samstag den stellvertretenden Sekretär des einflussreichen Sicherheitsrates, Asamat Abdymomunow, der vor einigen Jahren von seinem Vorgänger Nursultan Nasarbajew ernannt worden war. Zuvor hatte Tokajew schon Nasarbajew selbst den Vorsitz in dem Gremium entzogen – und ihn selbst übernommen. Tage später erklärte Nasarbajews Sprecher, der Ex-Langzeit-Machthaber habe die Position freiwillig aufgegeben.

Moskaus Einsatz hat seinen Preis

Der 81 Jahre alte Nasarbajew – der politische Ziehvater Tokajews – galt auch nach seinem Rücktritt im Jahr 2019 als mächtigster Mann in Kasachstan. Einige Experten meinen, dass Tokajew die aktuelle Krise nutze, um sich mehr Einfluss zu sichern. So entließ der Staatschef in der vergangenen Woche bereits die gesamte Regierung und ersetzte die Geheimdienstführung durch eigene Vertraute. Ex-Geheimdienstchef Karim Massimow wurde wegen Hochverrats festgenommen.

Russische Soldaten in Almaty: Eine von Moskau geführte Militärallianz hilft aus
Russische Soldaten in Almaty: Eine von Moskau geführte Militärallianz hilft aus Foto: AFP/Russisches Verteidigungsministerium

Die Unterdrückung der Unruhen erfolge zunehmend in Form einer „rigorosen Befreiung des amtierenden Präsidenten aus der Bevormundung des Vorgängers“, schrieb der Experte des Moskauer Carnegie Center, Alexander Baunow. Andere Experten meinen, dass Tokajews Preis für die neue Machtfülle unter anderem eine größere Abhängigkeit von Russland sei, dessen Soldaten er sich nun ins Land geholt hat. Für Montag war ein Video-Gipfel des Militärbündnisses OVKS zur Lage in Kasachstan geplant, an dem auch Kremlchef Wladimir Putin teilnehmen wollte.

Kommt Putin die Krise in Kasachstan gelegen?

Kasachstan ist für Russland der wichtigste Verbündete in der Region Zentralasien. In der kasachischen Steppe liegt auch Russlands Weltraumbahnhof Baikonur. Kasachstan ist eine weitere Gelegenheit für Putin, Stärke zu zeigen. Zudem hebt er die Bedeutung der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über die kollektive Sicherheit, einer bisher eher zahnlosen Antwort auf die Nato, die nun den Militäreinsatz führt. Putin dürfte Vorteile durch den Einsatz sehen, weil Russland sich als Garant von Stabilität in Zentralasien zeigen kann. Durch die Unterstützung für Tokajew erhält er sich ein russlandfreundliches System in Kasachstan. Das war schon bei der Hilfe für den als „letzten Diktator Europas“ kritisierten Alexander Lukaschenko in Belarus zu sehen. Kremlkritiker in Moskau betonen, dass Putin durch den Militäreinsatz auch ein Signal an Gegner im eigenen Land sende, dass er um keinen Preis von der Macht lassen und sie notfalls mit Gewalt durchsetzen werde – wie in Belarus und in Kasachstan.