Die spinnen, die Briten – und sie wählen

Die spinnen, die Briten – und sie wählen
(AFP)

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Das Vereinigte Königreich wählt am Donnerstag ein neues Unterhaus. Die Briten müssen sich zwischen Theresa May und Jeremy Corbyn entscheiden. Selten hat der Spruch "Qual der Wahl" besser gepasst. Wir spielen verschiedene Szenarien durch, schauen auf eine bizarre Kampagne zurück und lassen den britischen Humor zu Ehren kommen.

Die Briten wählen am Donnerstag ein neues Parlament. „May oder Corbyn“ heißt mittlerweile die Frage. Mittlerweile, da vor wenigen Wochen noch alles auf eine klare Gewinnerin May hindeutete. Die Premierministerin und ihre konservativen Tories haben in kürzester Zeit aber dermaßen katastrophal an Zuspruch in der britischen Bevölkerung verloren, dass es nun doch noch mal spannend werden könnte.

Ihren ebenso kontinuierlichen wie rasanten Beliebtheitsverlust müssen sich die Tories ans eigene Revers heften. Sie richteten ihre ganze Kampagne auf May als Flaggschiff aus. Wohl ohne zu ahnen, was für eine miserable Wahlkämpferin die amtierende Premierministerin im Grunde ist. Großer Profiteur ist der selbst in seiner eigenen Labour-Partei umstrittene Altlinke Jeremy Corbyn.

Corbyn hat alles, was May nicht hat. Corbyn kann reden und hat ein gewisses Charisma. Beides sprechen britische Medien May völlig ab. Durch ihr immer wieder wiederholtes Mantra vom „strong and stable“ wird ihr ein roboterhaftes Daherkommen unterstellt. Der Spitzname war schnell gefunden. Fortan war nicht mehr die Rede von Premierministerin Theresa May, sondern vom „Maybot“. Die Zeitung Guardian sprach gar von „Kim Jong-May“.

Dass May überhaupt erst in diese Bredouille geriet, nahm seinen Anfang mit einem völlig unerwarteten politischen Schwenker – dem Gegenteil von der eigenen Bezeichnung als „strong and stable“. Die Tories führten in ihrem Parteiprogramm einen Punkt auf, der ältere Briten besonders empörte. Bevor die Pflegeversicherung greifen sollte, müssten erst die persönlichen Ersparnisse aufgebraucht werden, so die Absicht der Konservativen. Für die Tories war es ein Fiasko.

Das ganze Vereinigte Königreich schien sich gegen sie zu erheben. Die schnell „Demenzsteuer“ getaufte Maßnahme wurde von May umgehend zurückgenommen. Die Alten atmeten zwar auf – doch die „Strong and stable“-Fassade war plötzlich von Rissen durchzogen, die Bühne für Spott und Häme somit feierlich geöffnet. So sorgte auch ein Foto von einem auf einer Autobahn vom Wind umgeworfenen Kampagnen-Wagen der Tories für Erheiterung. Der Lieferwagen fuhr – natürlich – mit der Aufschrift „strong and stable“ durch das Lande.

Viele Briten sahen sich demnach fortan vor der Wahl, für einen Sprachroboter zu stimmen, der dazu nicht einmal mehr „stabil“ daherkommt, oder doch das Experiment Corbyn zu wagen. Besonders für junge Briten schien die Entscheidung nun gefallen. Das zeigt auch der Überraschungserfolg eines Protestsongs der Band Captain Ska. Der Reggae-Song richtet sich klar gegen May und bereits der Titel „She’s a Liar“ gibt die Richtung vor. Mittlerweile belegt er den ersten Platz in den britischen Musikcharts. May selber gefällt der Song nicht, wie sie wenig überraschend vor zwei Tagen bekanntgab.

Zu allem Überfluss beging die Premierministerin einen Fehler, den sich britische Spitzenpolitiker zuvor schon mehrmals geleistet haben. Sie scheitern kontinuierlich am Versuch, sich den „Common People“ – den „einfachen Menschen“ – anzunähern, indem sie sich deren Essen zu Munde führen. 2015 lachte die ganze Insel über David Cameron, als dieser sich mit Messer und Gabel über einen Hotdog hermachte.

Der ehemalige Oppositionsführer David Milliband verbiss sich regelrecht in einem Bacon-Sandwich. Und May hat nun Chips – also Pommes – gegessen. Das Problem dabei? Nun ja, May sieht auf jedem Foto aus, als wäre das britische Nationalgericht das Ekelhafteste, was ihr jemals zwischen die Zähne gekommen ist. Und wieder konnten die Briten den Kopf schütteln und sich über ihre Premierministerin amüsieren.


Dass Politik im Vereinigten Königreich sich aber mit ernsten Themen wie Brexit und Terror auseinandersetzen muss, geht bei allem berechtigten Spott nicht unter. Eines der entscheidenden Themen des Wahlkampfes war angesichts des Angriffs rund um die London Bridge die Sicherheitslage im Vereinigten Königreich. Das Thema Brexit spielte im Wahlkampf eine kleinere Rolle als zunächst angenommen, der Fokus der Wähler verschob sich auf Innenpolitisches wie Bildung, Gesundheitsvorsorge und staatliche Ausgabenkürzung.

Premierministerin Theresa May und Labour-Chef Jeremy Corbyn buhlten zuletzt darum, wer Großbritannien besser vor Terrorismus schützen könne. Die Konservative hat im Falle eines Wahlsieges ein hartes Durchgreifen gegen Extremisten versprochen – selbst, wenn dazu die Änderung von Bestimmungen zum Schutz der Menschenrechte nötig sei. Oppositionsführer Corbyn kritisierte May dagegen, weil sie in ihrer Zeit als Innenministerin rund 20.000 Stellen bei der Polizei gestrichen habe.

Was May zu den Wahlen bewegt hat

May hatte die vorgezogene Wahl in der Hoffnung ausgerufen, die Mehrheit ihrer Tories im Parlament auszubauen. Damit wollte sie sich Rückendeckung für die EU-Austrittsverhandlungen holen. Die Anschläge in Manchester und London machten dann die Gefahr durch internationalen Terrorismus zum Topthema. Nach den Anschlägen war der Wahlkampf jeweils vorübergehend unterbrochen worden. Mays Tories waren mit einem zweistelligen Umfragevorsprung vor Labour in den Wahlkampf gegangen. Der Abstand hat sich zuletzt laut einigen Meinungsumfragen deutlich verkleinert.

Verschiedene Szenarien

Erste Wahlergebnisse werden für den Donnerstagabend erwartet. Bereits jetzt lassen sich verschiedene Szenarien durchspielen. Im britischen Unterhaus (dem „House of Commons“) sind 650 Sitze zu vergeben. Die für den nordirischen Arm der Sinn Féin gewählten Abgeordneten bleiben Westminster aber traditionell fern. Zurzeit bedeutet das vier leer bleibende Stühle im Parlament. Das aber nur als kleiner Hintergrund. Interessanter sind die verschiedenen Möglichkeiten, die die Wahl vom Donnerstag eröffnet.

Fünf verschiedene Szenarien bieten sich für Tories und Labour hier an.

1) Verlieren die Tories 19 oder mehr ihrer Wahlbezirke, wird es keine Mehrheit im Parlament geben (man spricht dann von einem „Hung Parliament“), Corbyn wäre aber neuer Premier (falls die schottische SNP ihn unterstützt). Für May wäre das der größte anzunehmende Unfall.

2) Verlieren die Tories acht bis 18 Sitze, gibt es immer noch ein „Hung Parliament“, die Konservativen würden aber die Minderheitsregierung stellen. Auch dieses Szenario würde May wohl ein abruptes Ende der politischen Laufbahn bescheren. In diesem Falle würde sie sehr wahrscheinlich abgelöst und durch Boris Johnson, David Davis oder Amber Rudd ersetzt.

3) Verlieren die Tories einen bis acht Sitze, verkleinert sich ihre Mehrheit im Parlament. Auch das wäre für May eine ausgemachte Blamage. Immerhin hat sie die Neuwahlen ausgerufen in der Hoffnung auf eine breitere Mehrheit. May würde in dem Fall aber wahrscheinlich nicht von der eigenen Partei abserviert werden.

4) Bleiben die Tories bei ihrer jetzigen Sitzanzahl oder gewinnen sie bis zu acht Sitze hinzu, kann man sich nachher fragen, was das Ganze eigentlich sollte.

5) Gewinnen die Tories neun oder mehr (gar viel mehr?) Sitze hinzu, ist das für May ein absoluter Triumph. In dem Fall hat sie alles richtig gemacht. Sogar das Gesicht beim Chipsessen hat sie dann richtig verzogen.

May will sich unerpressbar machen – auch im Hinblick auf einen harten Brexit

Als May das Parlament im Hinblick auf die Neuwahlen auflöste, hatten die Tories eine Mehrheit von 17 Sitzen gegenüber der Opposition. Das ist sozusagen die Latte, die sie übersteigen muss, um erfolgreich aus den Wahlen herauszukommen. Je kleiner die Mehrheit ausfällt, desto „erpressbarer“, vor allem in Fragen eines harten oder doch eher weichen Brexits, wird May gegenüber ihren eigenen Tory-Abgeordneten, die nicht alle mit Mays Linie in dieser Frage einverstanden sind.

Der Abschlussumfrage zufolge kann May auf eine etwas größere Mehrheit ihrer konservativen Partei hoffen. Der Ipsos-Mori-Befragung zufolge wollten 44 Prozent für die Tories stimmen, ein Prozentpunkt weniger als noch am Freitag. Die sozialdemokratische Labour-Partei gibt zugleich vier Punkte auf 36 Prozent ab, wie aus der Umfrage für den Londoner „Evening Standard“ vom Wahltag hervorgeht. May kommt damit auf einen Vorsprung von acht Prozentpunkten zu ihrem Rivalen Jeremy Corbyn.