Umerziehungskurse für die oppositionsnahe Jugend

Umerziehungskurse für die oppositionsnahe Jugend
(Musa Sadulayev)

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Russlands Machthaber fürchten die Unzufriedenheit der angehenden Wähler und organisieren Umerziehungskurse für die oppositionsnahe Jugend.

Sergej Tschaikowski erwartete eine normale Geschichtsstunde, als er den Klassenraum in seiner Schule in Sibirien betrat. Stattdessen überschüttete sein Lehrer ihn mit beißenden Vorwürfen wegen seiner Teilnahme an einer regierungskritischen Demo Ende März in Tomsk – als Teil einer speziellen Unterrichtseinheit über die „Gefahren des Extremismus“. Als „Faschisten“, „Lakeien der angelsächsischen Staaten“ und „Verräter“ beschimpfte der Lehrer den 18-Jährigen, der an einer von Kreml-Kritiker Alexej Nawalny organisierten Protestversammlung gegen Korruption teilgenommen hatte, vor versammelter Klasse.

„Er sagte, es sei seine Aufgabe dafür zu sorgen, dass meine Mitschüler meinem Beispiel nicht folgten“, erinnert sich Tschaikowski, der die wütenden Tiraden heimlich filmte und im Internet veröffentlichte. „Er wollte mich demütigen und einschüchtern.“ Die Schulleitung bezeichnete den Vorfall später öffentlich als „hysterische Reaktion“ eines einzelnen Lehrers, aber Berichte wie diese häufen sich. Angesichts der im kommenden Jahr bevorstehenden Präsidentschaftswahl wirken die russischen Behörden zunehmend nervös und angespannt.

„Er wollte mich demütigen“

Sie fürchten die Unzufriedenheit der eigenen Jugend. Zahlreiche Schulen und Universitäten beriefen Pflichtversammlungen ein, nachdem Nawalny am 26. März landesweit mehrere tausend Anhänger zu den größten Protestaktionen gegen Präsident Wladimir Putin seit Jahren auf die Straße gebracht hatte. Auffällig dabei war vor allem die große Zahl der Schüler und Studenten, die daran teilnahmen. Berichten zufolge wurden seitdem Schüler überall in Russland zu Unterrichtseinheiten gezwungen, in denen sie vor den Gefahren der Unterstützung von Putin-Gegnern gewarnt wurden. In der südwestrussischen Stadt Samara an der Wolga mussten im vergangenen Monat mehr als 3000 von ihnen an einer langen Konferenz unter dem Titel „Nein zum Extremismus“ teilnehmen.

Redner warnten sie davor, dass die aktuellen Proteste in eine bewaffnete Bewegung münden könnten, wie ein Teilnehmer der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Bei einer weiteren Veranstaltung in Samara warnten Priester laut der Oppositionsbewegung Open Russia, die sich auf eine Studentin beruft, vor „revolutionären Bewegungen“. Dabei verwiesen die Geistlichen auf den „Zusammenbruch des Landes“ nach der Revolution von 1917. In St. Petersburg, der zweitgrößten Stadt des Landes, mussten nach Angaben eines örtlichen Journalisten Studenten der Polytechnischen Universität eine ähnliche Konferenz besuchen und Fragebögen ausfüllen.

„Nein zum Extremismus“

„Bist Du bereit, der Polizei zu helfen?“ und „Was ist Deine Meinung zu Extremisten?“, lauteten zwei der Fragen in dem Papier, das AFP vorliegt. In einigen Fällen allerdings scheinen die Umerziehungsversuche nach hinten loszugehen. Mit Smartphones aufgenommene Videos aus Wladimir rund 180 Kilometer vor Moskau zeigen, wie Schüler ihre Lehrer herausfordern. „Warum macht Ihr uns Angst mit Krieg und Revolution?“, ruft einer von ihnen. Andere verweisen auf Beispiele von Korruption auf höchster Ebene und fordern ihre Lehrer auf, ihnen Videos der Opposition vorzuführen. Geschichtslehrer Andrej Rudoi aus Dserschinsk rund 400 Kilometer östlich von Moskau berichtet vom wachsenden politischen Engagement unter seinen Schülern.

Seit dem vergangenen Jahr sprächen immer mehr über Politik, berichtet der 26-Jährige. „Das macht den Machthabern Angst.“ Aus diesem Grund sei auch eine landesweite Anordnung erlassen worden, Schüler und Studenten „zu beruhigen“. In Wolschski in Südrussland etwa wollte die Lehrerin statt des erwarteten Technologieunterrichts plötzlich über die Bedeutung der politischen Stabilität diskutieren, berichtet der 13-jährige Nikolai. „Also habe ich von Nawalny gesprochen und meine Lehrerin begann, sehr nervös zu werden.“ Eine Stunde lang habe sie der Klasse eine Moralpredigt gehalten. Aber Nikolai weiß: „Sie haben nicht das Recht, uns ‚umzuerziehen‘.“ „Ich glaube, sie tun das, weil sie Angst haben. Sie wissen, dass wir eines Tages wählen dürfen.“