„Der FN beherrschte das System“

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Die europäische Presse beschäftigt sich auch mit dem Ausgang der Europawahl. Allgemein ist man über die Zunahme der Protestwähler und den Erfolg der Rechten in Europa besorgt- und betreibt Ursachenforschung.

Die Zeitung „Sud-Ouest“ aus dem südwestfranzösischen Bordeaux schreibt zum Ausgang der Europawahl in Frankreich: „Für die (regierende) sozialistische Partei ist es ein Debakel, schlimmer noch als jenes von 2009, denn sie schafft die Heldentat, noch einmal zwei Punkte zu verlieren. (…) Die Linke landet so, alles zusammengenommen, bei 30 Prozent und die (sozialistische Partei) PS stellt nur die Hälfte. (…) Aber für die (konservative Oppositionspartei) UMP ist es kaum besser. Die siegreiche Partei der Kommunalwahlen hoffte, an die Spitze zu kommen, aber mit 20,7 Prozent befindet sie sich vier Punkte hinter der (rechtsextremen) Front National. (…) (UMP-Chef) Jean-François Copé, den am Dienstag eine turbulente Vorstandssitzung erwartet, hat offenbar nicht vor, zurückzutreten.“

Auch die linksgerichtete Pariser „Libération“ befasst sich mit dem Ergebnis der Europawahl in Frankreich und dem Sieg der rechtsextremen Front National: „Der Sieg der (rechtsextremen) Front National (FN) konnte noch so sehr angekündigt sein, er bleibt ein Schock, der Frankreich und ganz Europa erschüttert. Sicher haben Europawahlen nie das inländische politische Leben umstrukturiert und auch nicht die Ergebnisse der nächsten Urnengänge angekündigt. Aber der Erfolg der FN zeigt deren Mobilisierungsfähigkeit, ihre Verwurzelung und das Fortbestehen ihrer ausländerfeindlichen Thesen. (…) Aber die Schockwelle, die durch die Partei von (FN-Chefin) Marine Le Pen ausgelöst wurde, geht weit über die nationalen Grenzen hinaus. Ihre Ergebnisse, begleitet vom guten Abschneiden anderer europafeindlicher Parteien, bedeuten eine wirkliche Bedrohung der europäischen Idee. (…) Nur die Fähigkeit der demokratischen Parteien, zu diesem mit der Demokratie über Kreuz liegenden Volk zu sprechen, kann hoffen lassen, dieses Übel zu bekämpfen.“

„Junge und Arbeiter gingen nicht hin“

Wie viele Zeitungen kommentiert der Pariser „Figaro“ das Ergebnis der Europawahl in Frankreich mit dem Sieg der rechtsextremen Front National: „30 Jahre nach ihrem ersten Wahlerfolg unter (dem sozialistischen Präsidenten) François Mitterrand hat sich die (rechtsextreme Front National) FN bei einem landesweiten Urnengang als stärkste Partei Frankreichs durchgesetzt. Bei einer Wahl, die von den Jungen und der Arbeiterschicht gemieden wurde, (…) hat die Partei von (FN-Chefin) Marine Le Pen gewonnen – und mit Abstand! Laut, aber am Rande stehend, lagerte sie (die FN) vor den Türen des Systems. (…) Gestern hat sie es zum ersten Mal beherrscht. Für Marine Le Pen ist es ein persönlicher Sieg. Ihr ist es gelungen, durch die Verkörperung eines neuen Stils das wichtigste Hindernis für einen Aufstieg der Front National zu Fall zu bringen (…) – ihre Verteufelung.“

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ setzt sich mit der Bedeutung der Europawahl für die Wirtschaft in der EU auseinander: „Drei Felder hat man ausgemacht, auf denen schnell Zeichen gesetzt werden könnten: Der Abschluss des öffentlich leider zunehmend umstrittenen Freihandelsabkommens mit den Vereinigten Staaten würde den Marktzugang wechselseitig erleichtern, auch zum Nutzen der europäischen Verbraucher und der Beschäftigten. Vom Abbau der Schranken für Energielieferungen im EU-Binnenmarkt wären niedrigere und damit wachstumsfördernde Energiepreise zu erwarten. Für mehr Wettbewerb sorgte auch der Ausbau der Infrastruktur, dabei geht es nicht nur um Straßen und Schienen, sondern auch um Breitbandnetze. Freilich deutete am Wahlabend zunächst wenig daraufhin, dass die Kräfte des Wettbewerbs und des Marktes über das Europaparlament neuen Schub bekommen werden.“

Die Motive des Protests

Zur Parteienlandschaft in Europa heißt es in der „Frankfurter Rundschau“ „Es bringt überhaupt nichts, den fragwürdigen Charakter von Parteien wie der deutschen AfD einfach nur wieder und wieder zu verdammen, so richtig das auch ist. Man sollte sich statt dessen mit den nachvollziehbaren Motiven des Protests beschäftigen. Dazu gehört das Gefühl, Veränderungen ausgesetzt zu sein, die man weder durchschauen noch gar beeinflussen kann. Vor allem die klassischen konservativen und sozialdemokratischen Parteien haben die Signale viel zu lange nicht gehört. Sie haben dem Euro-Skeptizismus keine europäischen Ideen und Konzepte und schon gar keine reale Politik entgegengesetzt, die als ganz praktische Werbung für Europa hätte dienen können.“

Die linksliberale römische „La Repubblica“ kommentiert am Montag den Wahlsieg der rechtsextremen Front National bei der Europawahl in Frankreich: „Europa geht verletzt aus den Wahlen hervor. Es wankt nach dem Wahlergebnis aus Frankreich. Es ist, als ob ein beträchtlicher Teil Europas sich selbst verleugnet. Es ist das erste Mal, dass in einem der großen Gründerländer eine europhobe Bewegung, die Front National von Marine Le Pen, bei Wahlen im ganzen Land an der Spitze liegt. Es ist eine starke, wenn nicht sogar entscheidende, Absage an die Integration durch ein Viertel der französischen Bürger, die gestern gewählt haben. Die geringe Beteiligung relativiert den Wert des Ergebnisses, aber ändert nichts an seiner Legitimität. Die Europäische Union geht geschwächt aus dieser Prüfung hervor.“

„Politisches Erdbeben“

Zum Ausgang der Europawahl schreibt die rechtsliberale Madrider Zeitung „El Mundo“ am Montag: „Europa war gestern Schauplatz eines politischen Erdbebens: des Aufschwungs der extremen Rechten und der Parteien, die gegen die EU sind. Die besorgniserregendsten Beispiele gab es in Frankreich, wo der Front National von Marine Le Pen einen überwältigenden Sieg errang, und in Großbritannien mit dem Erfolg der Ukip. (…) Obwohl die Zersplitterung der Stimmen der Euroskeptiker gegen diese arbeiten wird, dürfen die Europabefürworter den Vormarsch der Gegner nicht ignorieren, denn das wäre unverantwortlich. Sie müssen die Gesellschaft davon überzeugen, dass sie mittels einer wirksamen Sozial- und Wirtschaftspolitik für Europa arbeiten können. Das ist der einzige Weg, um den antieuropäischen Gruppierungen die Tür zuzusperren und einen neuen Alarm zu verhindern.“

Zum Ausgang der Europawahlen meint die Wiener Zeitung „Die Presse“:
„Die etablierten Parteien wurden bei dieser Europawahl für die Finanz- und Schuldenkrise und deren Auswirkungen in unterschiedlichem Ausmaß abgestraft. Es war kein ‚politischer Erdrutsch‘, wie ihn manche angekündigt haben, und wie er eigentlich auch als Sprachbild nicht funktioniert. Aber es war die erste große Nachkrisenwahl, bei der ein Stück der Verletzungen sichtbar wurde: Die Bevölkerung hat Vertrauen in die politische Führung verloren. Allen voran in Frankreich, aber auch in Großbritannien, Spanien oder Griechenland brach die Zustimmung für die Regierungsparteien ein.“

„Der zornige Rand Europas“

In der „Times“ heißt es: „Der zornige Rand Europas“. Die konservative Zeitung kommentiert am Montag den Sieg rechtsradikaler und populistischer Parteien bei den Europawahlen:
„Die Politiker in Europa sollten verstehen, dass die Angst auf dem Kontinent nicht nur wirtschaftlich ist. Viele Wähler befürchten, dass die Einwanderer sich nicht in die Gesellschaft integrieren. Andere sorgen sich, dass christliche Wertvorstellungen von nichtreligiösen liberalen Konzepten verdrängt werden. Gewiss mögen viele dieser gesellschaftlichen Sorgen unbegründet sein. Die wohlhabende liberale Mehrheit in Europa muss jedoch mit den Randparteien leben lernen, sonst werden diese Randparteien weiter wachsen.“

„Europa ist zerrissen“

Die konservative schwedische Tageszeitung „Svenska Dagbladet“ (Stockholm) schreibt am Montag nach der Europawahl: „Die EU-Parlamentswahl hat gezeigt, dass Europa zerrissen ist. Sechs Jahre Wirtschaftskrise haben die Zweifel der Bürger an der Europäischen Union als Garant für Wohlstand und Sicherheit erhöht. Am deutlichsten merkt man das an den Erfolgen der Randparteien in ganz Europa. (…) Die EU ist zu wichtig, als dass man sie Unmutspolitikern, Extremisten und Faulenzern überlassen sollte. Die wichtigste Aufgabe der Europäischen Union ist es nun, das Vertrauen seiner Bevölkerung zurückzugewinnen.“

Die bulgarische Zeitung „24 Tschassa“ setzt sich am Montag mit den Ergebnissen populistischer und nationalistischer Parteien bei der Europawahl 2014 auseinander:
„Das kleine Bulgarien zeigte dem alten Europa, dass die Bulgaren mehr Europäer sind als die Europäer in London und in Paris, die für deren Nationalisten stimmten und diese für das Parlament in Brüssel bevorzugten. Doch ihre Schwesterpartei in Bulgarien, die Ataka, blieb unter der Sperrklausel. Damit wird sie erstmals seit 2007 keine Vertreter im Europäischen Parlament haben.
Die bulgarischen Wähler zeigten auf diese Weise mehr Vernunft als die sogenannten alten Europäer. Diese gaben den Ängsten leichtfertig nach, die ihnen lokale Nationalisten einjagen. Doch hier, in Bulgarien, demonstrierten die Wähler ihr europäisches Denken und stellten es den Anti-Europäern in Frankreich und in Großbritannien gegenüber. Und das ist das positiver Ergebnis der Europawahl in Bulgarien.“

Die linksliberale Zeitung „Pravo“ aus Tschechien schreibt am Montag zur niedrigen Beteiligung bei der Europawahl, die in Tschechien bei nur 18,2 Prozent lag: „In Mode sind unabhängige Experten, Manager und neue Bewegungen von Geschäftsleuten. Mehr Sympathien als die parlamentarische ‚Schwatzbude‘ bekommen diejenigen, die effektive Lösungen sowie eine ruhige und feste Hand versprechen. Es reicht daher nicht, mehr Demokratie in Europa zu fordern. Es ist unerlässlich, die parlamentarische Demokratie als solche zu verteidigen. Parallel dazu müssen Wahlen popularisiert und neue Elemente der direkten Demokratie entwickelt werden. Ist es wirklich notwendig, die Menschen in die Stimmlokale zu treiben? Sollten wir angesichts der technischen Entwicklung nicht über die zwar weniger feierliche, aber bequemere Abstimmung aus unseren Wohnzimmern nachdenken?“