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Arbeit im Zeitalter der Maschinen und Computer

Der 1. Mai ist der Tag der Arbeiterbewegung. Ein Tag mit einer fast 130-jährigen Geschichte, der aber nichts an Bedeutung verloren hat. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich allerdings viel geändert. Damals waren die Fronten noch einigermaßen klar. Arbeit war eine überlebenswichtige Notwendigkeit. Die Kapitaleigner, die Bourgeoisie, nutzte die Arbeitskraft der Arbeiterklasse aus und lebte ganz gut davon, sich die Früchte von deren Arbeit zu eigen zu machen. Die Arbeiter protestierten gegen körperliche Ausbeutung und für erträgliche Achtstundentage.

Heute sieht sich die Arbeitswelt neuen Herausforderungen ausgesetzt. Digitalisierung und Automatisierung sind zu bestimmenden Themen geworden. Neue Fabriken entstehen, in denen nur noch wenige Menschen arbeiten. Roboter und Computer machen Arbeit leichter und die Arbeiter und Arbeiterinnen produktiver. Sie bergen aber auch das Potenzial, viele Menschen arbeitslos zu machen. Ein Trend, der sich heute schon abzeichnet, ist, dass immer höhere schulische Qualifikationen benötigt werden, um überhaupt einen Job zu finden.

Wer heute arbeitslos ist, verhungert zwar nicht, aber die Situation kann schnell für ihn unerträglich werden. Arbeit ist zu einem zentralen Thema unserer Identität geworden. Wir identifizieren uns mit unserer Arbeit – haben einen Traumberuf. Arbeit ist ein wichtiger Teil unseres Lebens, ohne den es uns an etwas mangelt. Aber wenn wir keine Arbeit haben, sind wir schnell bereit, jeden Job anzunehmen, bloß um Arbeit zu haben. Arbeitslosigkeit ist stigmatisiert. Wer über längere Zeit arbeitslos ist, riskiert schnell, von seinen Mitmenschen als Sozialschmarotzer oder Faulenzer wahrgenommen zu werden.

Zusätzlich wird den Menschen vorgegaukelt, sie seien an ihrer Lage selber schuld. Immerhin steht es heute jedem frei, sich selbstständig zu machen und so zu seinem eigenen Chef zu werden und selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Wer es nicht schafft, sucht dementsprechend die Schuld bei sich selbst und nicht in der bestehenden Gesellschaftsordnung. Es droht also ein immer stärkerer Wettbewerb um weniger Arbeitsplätze, die nur noch Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen offenstehen. Da die Angestellten allerdings Angst vor der Arbeitslosigkeit haben, nehmen sie zum Beispiel stagnierende oder gar sinkende Reallöhne in Kauf.

Anders als die Menschen vor 130 Jahren leben wir heute jedoch in einer Zeit, in der es an nichts mangeln dürfte. Es wird genug produziert, so dass alle satt werden und gut leben könnten – würde der Reichtum auf alle verteilt. Das führt zu der verblüffenden Situation, dass wir eigentlich weniger arbeiten könnten. Wir könnten uns mehr Zeit für Privates, für ein soziales Leben nehmen. Oder aber um der Arbeit nachzugehen, die wir wirklich machen wollen, die uns interessiert, unabhängig davon, dass sie effizient und profitabel ist. Stattdessen haben wir Angst davor.
In Anbetracht dieser Feststellung ist die Forderung nach weniger Arbeit (weniger Wochenarbeitsstunden oder mehr Urlaub) zu gleichem Lohn überhaupt nicht radikal. Ganz im Gegenteil: Sie sollte längst umgesetzt sein.

ygreis@tageblatt.lu