Theorie und Praxis

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(dpa)

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Dass die gesetzliche Theorie und deren praktische Auslegung zuweilen deutlich auseinanderliegen, ist keine sonderlich neue oder überraschende Erkenntnis.

In kaum einem Fall ist die Diskrepanz zwischen der reglementarischen Vorgabe und der alltäglichen Gebräuchlichkeit aber so ausgeprägt wie bei der gesetzlichen Regelung zur Organspende.
Prinzipiell beruht die hiesige, aus dem Jahr 1982 stammende Gesetzgebung auf der sogenannten Widerspruchsregelung: Jeder Bürger, der sich nicht zu Lebzeiten explizit dagegen ausgesprochen hat, kommt a priori für eine Organspende infrage.
In der Praxis aber kommt das Gesetz in dieser Form so gut wie nie zur Anwendung.

twenandy@tageblatt.lu

Denn auch wenn der potenzielle Spender sich zu Lebzeiten in irgendeiner Form positiv zu einer eventuellen Organentnahme geäußert hat, werden fast ausnahmslos die Familienangehörigen befragt.
Was dazu führt, dass eine Vielzahl der bereits eingeleiteten Prozeduren aufgrund des „Neins“ der Familie wieder abgebrochen werden müssen. Im auf die Organspenden bezogenen extremen Jahr 2009, in dem in Luxemburg nicht ein einziges Organ entnommen werden konnte, war dies in rund der Hälfte der Fälle der Fall.

Demnach ist die oben angesprochene theoretische Widerspruchsregelung praktisch eher dem gleichzusetzen, was Experten als (erweiterte) Zustimmungslösung bezeichnen. Aus einer eher fortschrittlichen, modernen Gesetzgebung wird in der Praxis also eine – weil den medizinischen, gesellschaftlichen und menschlichen Aspekten nicht Rechnung tragende – sehr konservative Regelung.
Zwar hat sich im Vergleich zu vor zwei Jahren die Situation verbessert, doch besteht – um es etwas salopp auszudrücken – immer noch Luft nach oben. 2010 wurden hierzulande sieben Organe entnommen, auf die bei Organspenden übliche statistische Größe hochgerechnet macht das rund 14 Spenden pro eine Million Einwohner. Damit klassiert sich Luxemburg im europäischen Mittel.

Keine Frage von Rankings

Um nicht missverstanden zu werden: Es geht hier keinesfalls um ein einfaches Länder-Ranking. Dafür ist das Thema viel zu ernst. Es geht einfach darum, dass – auch in Luxemburg – mehr Menschen auf ein lebenserhaltendes Spenderorgan warten als zur Verfügung stehen.

Eine Spenderquote von 25 Organen pro Jahr und pro Million Einwohner wäre laut Transplantationsmedizinern nötig, um ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zu erreichen. Bislang kommen durchschnittlich aber nur Spanien und Österreich auf diese Zahlen. Beide Länder haben übrigens eine mit der Luxemburger Gesetzgebung vergleichbare Widerspruchsregelung. Nur wird sie in diesen Ländern konsequenter angewandt als hierzulande.
Warum geschieht das aber in Luxemburg nicht? Warum bitten Mediziner trotz der gesetzlichen Möglichkeiten im Fall der Fälle immer noch um die Zustimmung der Familien? Vielleicht geht es dabei um Respekt, um Rücksichtnahme. Vielleicht.

Und wenn, wäre auch an und für sich nichts dagegen zu sagen. Allerdings muss dann auch die Frage erlaubt sein, was mit dem Respekt, der Rücksichtnahme dem potenziellen Spender oder aber jenen Personen gegenüber ist, die auf ein Spenderorgan warten.
Mit großer Wahrscheinlichkeit ist die hierzulande übliche Vorgehensweise aber auf das Fehlen einer systematischen, offiziellen und damit bindende Dokumentation des Willens jedes einzelnen Bürgers zurückzuführen.

Nur wenn entsprechend der gesetzlich festgehaltenen Widerspruchsregelung in einem zentralen Register jene Personen erfasst sind, die eine Organspende ablehnen, können im Fall der Fälle Mediziner zweifelsfrei und im Sinne des Organspenders (also ohne die Familie um ihre Zustimmung bzw. Meinung bitten zu müssen) handeln.
Gesundheitsminister Mars di Bartolomeo jedenfalls, der in diesem Thema in den vergangenen Jahren nicht untätig war und zum Beispiel den verstärkten Einsatz von speziell geschultem Personal oder aber die Neudefinition des obligaten Hirntods entsprechend internationalen Kriterien durchgesetzt hat (wodurch sich auch zum großen Teil die steigende Zahl an Organspenden erklären lässt), scheint bereit, diesen Weg einschlagen zu wollen.

Allerdings sollten er bzw. der Gesetzgeber sich darüber im Klaren sein, dass die mögliche Neuregelung keine wie jede andere ist.
Jeder Tag, den diese auf sich warten lässt, kostet nämlich, ganz konkret, Menschenleben.