Europäische Wunst

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„Kunst kommt von können, nicht von wollen, sonst müsste es ja Wunst heißen“, soll Karl Valentin gesagt haben. Und doch wollen immer alle etwas von ihr.

In Europa sollen Kunst und Kultur die Völker zusammenschweißen. Damit sich endlich so etwas wie eine europäische Identität herausbildet! Doch so funktioniert es nicht. Auch wenn man kein Bewunderer von Gottfried Benn ist, seinen legendären Satz „Kunst ist das Gegenteil von gut gemeint“ sollte man jedem europäischen Kulturfunktionär rot ins Stammbuch schreiben.

Janina Strötgen
jstroetgen@tageblatt.lu

Die gemeinsame kulturelle Identität der Europäer hatten sicherlich auch Jacques Delors, damaliger Präsident der Europäischen Kommission, und sein Kulturkommissar Carlo Ripa di Meana im Kopf, als sie 1986 das Europäische Theaterpreisfestival starteten. Zur 14. Ausgabe des Festivals, das vom 12. bis 17. April in St. Petersburg stattfand (das Tageblatt berichtete), lohnt sich eine kleine kulturpolitische Analyse. Denn auch wenn von Völkerverständigung im großen Stil wohl kaum die Rede sein kann – dazu war das Festival mit seinen 400 Gästen aus der Crème de la Crème der Theaterwelt viel zu elitär –, sagt dieses Festival doch sehr viel über den Zustand Europas selbst aus. Fünf Beispiele:

Erstens: So ein Festival braucht eine klare Struktur und eine gute Organisation. Doch wie auch in den Institutionen Europas war von Klarheit nicht viel zu spüren. Die Italiener, die traditionell das Sekretariat des Festivals betreuen, schoben bei kleinen und großen Pannen die Schuld den Russen zu, die als Gastgeber das letzte Wort hatten. Und die Russen hatten sichtlich Spaß daran, den Europäern immer wieder zu demonstrieren, dass Russland nun mal (noch) nicht Teil Europas sei. Die logische Konsequenz: Ein Machtkampf zwischen Verantwortlichen führt zu einem Chaos in der Organisation.

Zweitens: Der Mangel an Transparenz. Genauso wenig wie der Bürger in der EU nachvollziehen kann, wie Entscheidungen getroffen werden, konnte der Festivalbesucher sich darüber Klarheit verschaffen, nach welchen Kriterien Produktionen eingeladen, Preise vergeben und Jurymitglieder ernannt werden. Das alles geschieht hinter geschlossenen Türen. Und hakt man nach, wird man mit blumigen Ausschweifungen abgefertigt. Es riecht nach Vetternwirtschaft und Gefälligkeitsnominierungen. Das kennt man. Auch aus der großen Politik.

Nicht Qualität, sondern Proporz

Drittens: Nicht die Qualität, sondern der Proporz entscheidet. Das mag der Qualität des Europäischen Theaterpreises zwar nicht immer förderlich sein, folgt aber zumindest dem europäischen Grundsatz „chacun son tour“. Und so lag der Fokus bei der Vergabe des Förderpreises „Neue Theaterrealitäten“ bewusst auf Produktionen abseits der großen Theaternationen. Das führte einerseits zu Enttäuschungen wie dem folkloristischen Rumgehüpfe des Ensembles des portugiesischen Nationaltheaters, aber auch zu Überraschungen, wie den tollen Inszenierungen des isländischen Künstlerkollektivs „Vesturport“. Sie zeigten, dass man Klassiker auch völlig neu interpretieren und erzählen kann, dass ein isländischer „Faust“ uns heute mehr sagen kann als eine deutsche Modellinszenierung und dass eine neue oder fremde Perspektive bereichernd ist. Diese Einsicht könnte auch in der europäischen Politik manchmal helfen.

Viertens: Die Annahme, dass vor allem auch Sprachbarrieren schuld seien, wenn der Funke zwischen den Völkern nicht überspringt, wurde auf dem Festival gründlich widerlegt. Produktionen auf Englisch, also einer Sprache, in der die 400 Gäste sicherlich folgen konnten, jagten die Zuschauer scharenweise aus dem Saal, während hingegen vier Stunden Finnisch zu einem unvergesslichen Abend wurden. Es kommt nicht auf die Sprache, sondern auf den Inhalt an. Man muss die Menschen erreichen, betreffen und berühren. Im Theater wie in der Politik.

Und fünftens: Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Ja, die Kultur besitzt im Prinzip die Kraft, Menschen verschiedener Nationalitäten, Traditionen und Zukunftsvisionen zusammenzubringen. Doch muss Kunst in erster Linie unabhängig – frei jeglicher Instrumentalisierung – sein. Und neue Perspektiven eröffnen dürfen. Denn nur dann ist sie ehrlich und nur dann kann ihre Kraft wirken. Und nur dann ist sie keine Wunst!