Der Hass auf die Solidarität

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Francis Wagner fwagner@tageblatt.lu

Dass mit der Wahl Barack Obamas die USA nicht über Nacht auf wundersame Weise zu einem anderen Land geworden sind, lässt sich am gegenwärtigen Tauziehen über eine Reform des Gesundheitswesens leicht ablesen. Die USA leisten sich zwar das teuerste Gesundheitswesen der entwickelten Welt, dies ändert aber nichts daran, dass es sich gleichzeitig um eines der schlechtesten handelt, weil es in der Tat Dutzende Millionen von Bürgern ohne jeglichen Versicherungsschutz im Regen stehen lässt.
Obamas Mannschaft hat zurzeit alle erdenkliche Mühe, die konservative Fraktion der eigenen demokratischen Partei davon zu überzeugen, dass sie ihren Widerstand gegen substanzielle Verbesserungen der Krankenversicherungen mäßigen.

Es ist für uns Westeuropäer schon recht schwer, diesen tief sitzenden Hass nachzuvollziehen, den viele Amerikaner – und zwar keineswegs nur Angehörige der Oberschicht – gegen alles hegen, was auch nur im Entferntesten nach gesellschaftlicher Solidarität, nach „Sozialismus“ ausschaut. Jeder ist dieser Weltanschauung entsprechend seines Glückes Schmied, jeder muss für sich selber fechten. Wessen Werk dem Herrn zu Wohlgefallen ist, den belohnt Er reichlich mit irdischen Gaben. Folgerichtig sind die Armen an ihrem Los größtenteils selber schuld: Wer keine Versicherung hat, der hat auch keine verdient. Wem dann nicht von einer Kirche oder Synagoge geholfen wird, der kann zusehen, wo er bleibt.

Prozesswut

Sicher, in Europa gibt es immer noch viel zu viele Menschen, die durch das soziale Netz fallen, doch die tief sitzende Ablehnung sozialer Solidarität ist doch auf unserer Seite des Atlantiks viel weniger verbreitet als in den USA. Zu den US-Bürgern, die im Falle eines gesundheitlichen Problems zur Gänze auf die Notdienste öffentlicher Krankenhäuser oder auf karitative Organisationen angewiesen sind, kommen noch jene, in deren Versicherungsschutz große Lücken klaffen. Dies erklärt dann, weshalb so viele Amerikaner nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus als Erstes einen Anwalt aufsuchen, der ihnen vor Gericht die Rückerstattung ihrer Behandlungskosten wegen angeblicher oder tatsächlicher Kunstfehler erstreiten soll. Die Seuche des Prozessrittertums soll die Unzulänglichkeiten des Sozialversicherungssystems kompensieren: Eine groteske und folgenschwere Entwicklung.

Wie soll nämlich ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient entstehen, wenn in der Praxis und im OP Richter und Anwälte im Geiste permanent daneben stehen? Des Weiteren wird es für unabhängige Doktoren zusehends schwieriger, die ständig steigenden Kosten für die „malpractice“-Versicherungen zu bestreiten. Und weil die Angst vor Prozessen die Medizinmänner (und -frauen) umtreibt, ordnen sie – damit ja nur keiner sie der Nachlässigkeit zeihen kann – alle möglichen Untersuchungen an, selbst wenn diese vollkommen überflüssig (und damit möglicherweise schädlich) sein sollten. Dies führt zu einer Explosion der Kosten, ohne dass damit der Gesundheit der Patienten gedient wäre. Auch in Europa fordern immer wieder wirtschaftsliberale Kreise, unser Sozialsystem „schlanker“ zu machen, d.h. die gesellschaftliche Solidarität zu unterminieren. Das Beispiel USA zeigt eindrücklich, wohin solche „Reformen“ führen können.