Debatten- Debakel

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Günter Grass hat die Diskussionen um sein Gedicht und vor allem um sich selbst zu einem Zeitpunkt losgetreten, an dem es viel Platz in den Zeitungen und viele freie Frequenzen im Fernsehen gibt. Osternbedingtes Aktualitätsloch. Marketingstrategisch hat Grass also alles richtig gemacht.

Die Einmischer mischen sich ein, Vereine und Vereinigungen verfassen Stellungnahmen und selbst die Politik reagiert.
Vorgeprescht ist Henryk M. Broder, selbst einer, der von Aufmerksamkeit (auch materiell) lebt. Er hat sich blitzschnell als Gegenspieler positioniert und Grass den Gefallen getan, ihn als „Prototypen des gebildeten Antisemiten“ zu beschimpfen. Eins zu null für Grass. Auf solch eine Reaktion hat er ungeduldig gewartet, sie sogar bereits in seinem Gedicht heraufbeschworen. Er wird als Antisemit diffamiert, nur weil er nun „mit letzter Tinte“ endlich geschrieben hat, „Was gesagt werden muss“.

Janina Strötgen.
jstroetgen@tageblatt.lu

Jetzt kann es losgehen. Ein Fernsehauftritt hier, ein Interview dort. Die gegnerischen Mannschaften bilden sich in Windeseile. Jene, die Grass nicht selten unter dem Deckmantel der freien Meinungsäußerung und von den unterschiedlichsten Motiven geleitet unterstützen (von den Ostermarschierern bis hin zur NPD), gegen jene, die das Gedicht als Kriegserklärung missbrauchen und Grass kurzum als „persona non grata“ einstufen.

Dann gibt es noch jene, die trotz Schock Humor bewahren („Ich bin schockiert. Grass redet Blech und trommelt in die falsche Richtung“, Dieter Graumann, Präsident des Zentralrates der Juden). Und natürlich die „Objektiven“, die es als ihre Aufgabe ansehen, etwas Nüchternheit in den emotionsgeladenen Showlauf zu bringen. Wie Spiegel online zum Beispiel, der einen „Faktencheck“ beisteuert.

Egotrips der Möchtegern-Intellektuellen

Und warum das alles? Weil Grass, der Schriftsteller, ein Gedicht geschrieben hat. Ein stilistisch holpriges und inhaltlich recht unspektakuläres noch dazu. Eines, in dem er vor der Atommacht Israel warnt. Die Bedrohung des Weltfriedens anprangert. Versucht, mit den Schlüsselbegriffen „Atomwaffen“, „Israel“, „Holocaust“ oder „Antisemitismus“ einen poetischen Rhythmus und einen politischen Aufschrei zu erzeugen. Er will sich noch mal einmischen, auf seine alten Tage. Ganz nach der Manier eines politisch engagierten Schriftstellers.

Nur leider ist wohl sein Ego zu groß und seine persönliche Vergangenheit zu vertrackt, um einen distanzierten Blick auf die komplexe Situation im Nahen Osten zu behalten. Das zeigt sich bereits im Gedicht, doch vor allem in seinen auf die Veröffentlichung folgenden Reaktionen. Dass er sich als Tabubrecher aufspielt, weil nur er alleine sich traue, Israels Rolle im Streit um Atomwaffen im Nahen Osten kritisch zu beleuchten, ist heillose Selbstüberschätzung. Es ist kein Tabu, Israel zu kritisieren. Auch in Deutschland nicht. Deshalb wäre statt Freude darüber, dass endlich mal wieder ein deutsches Gedicht international für Aufsehen sorgt (Denis Scheck, Literaturkritiker), Bestürzung angebracht. Bestürzung über den Zustand der politischen Debatte und die Egozentrik der Möchtegern-Intellektuellen.

Es gibt so vieles, über das öffentlich geredet werden müsste. Auch über Israel und Iran. Über die Gründe ihrer Feindschaft und über Gefahren und Ziele ihrer politischen Strategien. Und darüber – die aktuelle Debatte zeigt die Notwendigkeit aufs Neue –, dass die Begriffe Juden, Zionisten und Israelis und die sich davon ableitenden Kategorien Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik unbedingt auseinanderzuhalten sind. Stattdessen kochen die Beteiligten einen Wortbrei, der nicht viel Erhellendes, geschweige denn Friedensstiftendes besitzt, sondern nach Schuldzuweisung, Egozentrik und Selbstüberschätzung schmeckt. Das alles in einer Sprache, die nicht der Differenzierung und Analyse dient, sondern ungenau ist, polemisch Feindeslinien markiert und Mannschaften – man könnte auch von Identitäten sprechen – gegeneinander ausgrenzt.

Was für ein Armutszeugnis der „Intellektuellen“, denen es nicht mehr um Aufklärung, Emanzipation und Kritik geht, sondern wohl nur darum, sich selbst zu verkaufen. Nach den Regeln des Marktes. Was für eine armselige Streitkultur!