Eine einflussreiche Türkei ist eine Türkei, die von der EU nicht weiter ignoriert werden kann. Nach dem israelischen Militärkommando gegen die humanitären Hilfsschiffe für Gaza, das in der Tötung von neun türkischen Staatsbürgern endete, reagierte die Türkei mit großer Entschlossenheit, übte ungewöhnlich scharfe Kritik an der Regierung in Tel Aviv und zog ihre Botschafter aus Israel zurück.
Seitdem übersäen türkische Flaggen die Straßen und Cafés in Gaza und neugeborene Palästinenser bekommen türkische Namen. Erdogan wurde in der gesamten arabischen und moslemischen Welt zu dem Mann, der das Rückgrat hatte, Israel die Stirn zu bieten. Da können die Despoten Mubarak, Assad und Ahmadinedschad nur noch vor Neid erblassen.
Das NATO-Land und EU-Anwärter Türkei ist des ewigen Wartens auf eine Beschleunigung der auf der Stelle tretenden Beitrittsverhandlungen müde und will sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Ankara hatte lange auf eine außenpolitische Nischenpolitik gesetzt und sich als möglicher Vermittler im Nahen Osten nützlich gemacht.
Doch die Grenzen dieser Diplomatie offenbarten sich Ende 2008. Die Türkei verhandelte gerade mit Syrien und Israel. Der Annäherungsversuch zwischen den beiden verfeindeten Staaten scheiterte allerdings, als Israel im Dezember die Offensive „cast lead“ im Gazastreifen startete, ohne dass Ankara darüber Bescheid wusste.
Mehr Macht, mehr EU
Nun versucht sich das Land am Bosporus als Regionalmacht, die die wiederholten Demütigungen aus Israel nicht mehr duldet. Dabei nimmt die Türkei in der Region eine Stelle ein, die bislang unbesetzt und inexistent war: die eines selbstbewussten und moderierten Landes, das eine Modernisierung anstrebt.
Auch wenn Ahmadinedschad davon träumt, im Osten als neuer Nasser gefeiert zu werden, so sind seine politischen Überzeugungen zu extrem und sein Land zu isoliert, um eine Führungsposition in der arabischen Welt zu übernehmen. Ankara verkörpert dagegen ein positives Modell.
Erdogan plant eine Freihandelszone mit den arabischen Ländern, fährt einen israelkritischen Kurs und hat, zum Unmut des Westens, die erweiterten UN-Sanktionen gegen den Iran nicht mitgestimmt. Doch es wäre ein Fehler, diese neo-osmanische Außenpolitik als Abwendung vom Westen zu deuten. Im Gegenteil, für Ankara führt der Weg in die EU über eine Ausweitung des türkischen Einflusses in der Region. Ankara macht Druck und zwingt die EU zum Handeln.
Gleichzeitig macht sich das Land auch fit für die Europäische Union. Keine andere Regierung hat den Reformprozess, der das Land auf EU-Standard bringen soll, so vorangetrieben wie die amtierende AKP-Regierung. Im März erklärte der türkische Europaminister Egemen Bagis gegenüber dem Tageblatt, das Land habe ein ambitioniertes nationales Programm, das vorsieht, alle notwendigen Gesetzesänderungen bis Ende 2013 durchzuführen.
Nun ist die EU am Zug. Die derzeit herrschende Kakophonie muss aufhören und die Union muss eine klare und einstimmige Haltung einnehmen. Ein ranghoher EU-Diplomat erklärte bereits gegenüber der Welt, man müsse dem Land neue und glaubhafte Angebote machen.
Europa muss eine außenpolitische Entscheidung fällen und aufhören, die Türkei als Spielball für innenpolitische Zwecke zu benutzen, wie der französische Präsident Sarkozy und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel es bislang getan haben.
Michelle Cloos
[email protected]
De Maart

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